Scarpetta Factor
aus könnt ihr es nicht sehen, aber ihre Namen stehen auf dem Bombenlaster und auf allen Fahrzeugen im zweiten Revier. Außerdem gibt es dort einen kleinen Gedenkraum neben der Küche, eine Vitrine mit Ausrüstungsgegenständen, die an ihren Leichen sichergestellt wurden. Schlüssel, Taschenlampen, Funkgeräte, einiges davon geschmolzen. Beim Anblick der geschmolzenen Taschenlampe eines Kollegen kann einem ganz schön mulmig werden.«
Scarpetta hatte Marino seit einer Weile nicht gesehen, denn wenn sie in New York war, stand sie normalerweise unter Zeitdruck, und es ging ziemlich hektisch zu. Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass er einsam sein könnte. Sie fragte sich, ob es zwischen ihm und seiner Freundin Georgia Bacardi, mit der er seit dem letzten Jahr eine feste Beziehung hatte, möglicherweise kriselte. Vielleicht war es ja aus oder die Trennung stand kurz bevor, was Scarpetta nicht weiter überrascht hätte. Marinos Liebesbeziehungen hatten nämlich die ungefähre Lebenserwartung eines Schmetterlings. Scarpettas schlechtes Gewissen steigerte sich. Sie fühlte sich schuldig, weil sie das Paket mit nach oben genommen hatte, ohne es zuvor zu untersuchen, und auch wegen Marino. In Zukunft würde sie sich bei ihm melden, wenn sie in der Stadt war. Außerdem konnte sie ihn auch von Massachusetts aus hin und wieder anrufen oder ihm eine E-Mail schicken.
Inzwischen hatte die Bombenexpertin den Laster erreicht und kletterte in Stiefeln die Rampe mit dem messerscharfen Profil hinauf. Obwohl Marino ihr die Sicht aus dem Fenster und auf die Straße zum Teil versperrte, wusste Scarpetta, was gerade geschah, denn sie war mit den Abläufen vertraut. Die Bombenexpertin würde den gepanzerten Bombenkoffer auf das Netz legen und dieses in das TCV schieben. Mit der Steuerung der Winde würde sie das Stahlseil zurückziehen, damit sich der massive Stahldeckel über der Öffnung schloss. Danach würde sie den Bügelverschluss wieder anbringen und festziehen, vermutlich mit bloßen Händen. Bombenexperten trugen höchstens dünne Handschuhe aus Nomex oder Nitril, um sich vor Brandverletzungen oder möglichen Giften zu schützen. Dick gefütterte Handschuhe würden die einfachsten Tätigkeiten unmöglich machen und dennoch im Fall einer Explosion die Finger nicht retten.
Als die Bombenexpertin fertig war, versammelten sich ihre Kollegen und Lieutenant Lobo hinter dem Bombenlaster, klappten die Rampe ein, deckten den Behälter mit der Plane ab und befestigten sie. Der Laster fuhr, dröhnend und angeführt und gefolgt von Streifenwagen, die gesperrte Straße entlang nach Norden. Die Kolonne, ein Meer zuckender Lichter, steuerte auf den West Side Highway zu. Von dort aus würden sie eine vorgeschriebene sichere Strecke zum Bombenentschärfungsplatz der New Yorker Polizei in Rodman’s Neck nehmen, vermutlich über die Cross Bronx und die Ninety-fifth North, die Route, die sich um die betreffende Uhrzeit am besten eignete, um andere Verkehrsteilnehmer, Gebäude und Fußgänger vor Schockwellen, biologischen Kampfstoffen oder umherfliegenden Trümmern zu schützen, falls die Bombe unterwegs explodieren und trotz des Behälters Schaden anrichten sollte.
Lobo kam auf sie zu, öffnete die rückwärtige Tür von Marinos Auto und setzte sich neben Benton. Er trug einen Schwall kalte Luft ins Wageninnere. »Ich habe Ihnen per E-Mail Fotos geschickt.« Er schloss die Tür. »Von den Überwachungskameras.«
Marino begann, etwas in das Toughbook einzutippen, das an der Konsole zwischen den beiden Vordersitzen befestigt war. Anstelle der Karte von White Plains erschien ein Bildschirm, der ihn aufforderte, seinen Benutzernamen und sein Passwort zu nennen.
»Der Typ von FedEx hat eine interessante Tätowierung«, verkündete Lobo und beugte sich vor. Er kaute Gummi. Zimtgeruch stieg Scarpetta in die Nase. »Eine große, seitlich am Hals. Weil er dunkelhäutig ist, ist sie nur schwer zu erkennen.«
Marino öffnete die E-Mail und lud den Anhang herunter. Eine Standaufnahme aus einem Überwachungsvideo füllte den Bildschirm. Sie zeigte einen Mann mit FedEx-Kappe, der sich dem Empfangstisch näherte.
Benton rutschte nach vorn, um besser sehen zu können. »Nein, keine Ahnung. Ist mir noch nie begegnet«, sagte er.
Auch für Scarpetta war der Mann ein Fremder. Ein Afroamerikaner mit hohen Wangenknochen und Vollbart. Er hatte die FedEx-Mütze tief ins Gesicht gezogen. Eine verspiegelte Brille verbarg seine Augen. Der Kragen seines
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