Scarpetta Factor
machte in Daunenjacke, Cargohose und Stiefeln einen sehr großen und kräftigen Eindruck. Auf seinem kahlen Schädel saß eine Kappe mit der Aufschrift NYPD und dem Emblem einer Fliegerstaffel über dem Schirm, ein alter Bell-47-Hubschrauber, der einen an M*A*S*H denken ließ. Ein Geschenk von Lucy, und zwar ein ziemlich hinterhältiges, denn Marino flog ausgesprochen ungern.
»Ich nehme an, ihr habt Lobo schon kennengelernt«, sagte Marino, als er Scarpetta und Benton erreicht hatte. »Kümmert er sich auch gut um euch? Ich sehe nirgendwo heiße Schokolade. Aber ein Bourbon wäre jetzt auch nicht schlecht. Setzen wir uns doch in meinen Wagen, bevor ihr euch noch Erfrierungen holt.«
Marino steuerte auf sein Auto zu, das er nördlich vom Bombenentschärfungs-Truck geparkt hatte. Dieser wurde von Halogenscheinwerfern angestrahlt. Inzwischen hatten einige Polizisten die Plane entfernt und ließen eine Stahlrampe hinunter, eine Sonderanfertigung, wie Scarpetta sie schon bei anderer Gelegenheit gesehen hatte. Sie war mit einem rutschfesten Profil mit Zacken, tief wie die Zähne eines Sägeblatts, ausgestattet. Wer auf dieser Rampe stolperte und hinfiel, wurde aufgeschlitzt bis auf die Knochen. Allerdings hätte ein Sturz mit einer Bombe im Arm noch weitreichendere Folgen gehabt. Die Schutzkammer – auch Total Containment Vessel oder TCV genannt – ruhte auf einem Tieflader aus diamantgehärtetem Stahl und erinnerte an eine grellgelbe Tauchglocke mit Bügelverschluss, der gerade von einem Mitarbeiter der Notfalleinsatztruppe gelöst und abgenommen wurde. Darunter befand sich ein etwa zwölf Zentimeter dicker Deckel, an dem der Polizist ein Stahlkabel befestigte, das er dann mit Hilfe einer Winde auf den Grund des Behälters hinunterließ. Er förderte ein Nylonnetz mit Holzrahmen zutage, legte die Steuerung der Winde darauf und bereitete alles für die Bombenentschärferin vor, deren Aufgabe es sein würde, Scarpettas verdächtiges Paket in sieben Tonnen gehärteten Stahl einzuschließen. Dann würde man die Bombe wegschaffen, damit New Yorks Freunde und Helfer sie unschädlich machen konnten.
»Ich muss mich entschuldigen«, meinte Scarpetta zu Marino, als sie in seinen dunkelblauen Crown Victoria stiegen, der in sicherem Abstand zum Lastwagen und dem TCV geparkt war. »Sicher nur falscher Alarm.«
»Vermutlich wird Benton mir darin zustimmen, dass im Leben nichts sicher ist«, entgegnete Marino. »Ihr beide habt euch genau richtig verhalten.«
Benton betrachtete das neonrote Schriftband von CNN jenseits des Trump International Hotel mit seiner schimmernden silbernen Kuppel, ein etwas bescheidener Abklatsch der zehnstöckigen Kuppel in Flushing Meadows und ein stählernes Symbol nicht etwa des Raumfahrtzeitalters, sondern des sich immer mehr ausweitenden Imperiums von Donald Trump. Scarpetta las auf dem Nachrichtenticker diesen völlig aus dem Zusammenhang gerissenen Unsinn, der immer wieder rings um das Gebäude lief, und fragte sich, ob die Fehlinformation wohl auf Carleys Mist gewachsen war. Ganz sicher.
Bestimmt hatte Carley nicht gewollt, dass ihr hinterhältiger Seitenhieb in greller Neonschrift erstrahlte, während sie das potenzielle Opfer nach Hause begleitete, und deshalb eine Stunde damit gewartet, Scarpetta Ärger mit dem FBI einzubrocken. Vielleicht wollte Carley ja erreichen, dass sie es sich in Zukunft zweimal überlegte, bevor sie in einer Fernsehsendung auftrat. Zum Teufel mit dieser Frau! Warum musste sich ein Mensch so verhalten? Carley wusste um ihre schlechten Einschaltquoten, das war der Grund. Es handelte sich um einen verzweifelten Versuch, ihre Karriere zu retten oder den Sender zu sabotieren. Womöglich hatte sie ja Alex’ Vorschlag belauscht und ahnte, was ihr blühte. Inzwischen war diese Theorie für Scarpetta kein bloßer Verdacht mehr, sondern zur Gewissheit geworden.
Marino schloss seinen Wagen auf. »Warum setzt du dich nicht nach vorn, damit wir uns unterhalten können?«, wandte er sich an Scarpetta. »Entschuldige, Benton, für dich ist nur noch hinten Platz. Lobo und ein paar andere Bombenentschärfer waren gerade in Mumbai, um in Erfahrung zu bringen, wie sich verhindern lässt, dass bei uns ein ähnlicher Mist passiert. Wie Benton sicherlich bekannt ist, haben sich die Taktiken der Terroristen geändert. Sie schicken keine Selbstmordattentäter mehr los, sondern kleine, gut ausgebildete Sonderkommandos.«
Benton antwortete nicht, und Scarpetta spürte seine Feindseligkeit
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