Scarpetta Factor
roch sie die Bucht, die Laguna Veneta. Das seichte Salzwasser und die warme Frühlingssonne, als sie und Benton an der Anlegestelle in Colonna aus dem Wassertaxi gestiegen waren. Sie waren dem fondamento zur Calle San Cipriano gefolgt. Eigentlich waren Besuche in den Werkstätten nicht erlaubt, doch sie hatte sich nicht davon abhalten lassen und Benton an der Hand, vorbei an einer Barke voller Glasscherben, zu dem Schild gezogen, auf dem Fornace: Entrata Libera stand. In einem Saal mit Schmelzöfen, die an Krematorien erinnerten, hohen dunkelrot gestrichenen Backsteinmauern und einer hohen Decke hatte sie gebeten, beim Glasblasen zusehen zu dürfen. Aldo, der Handwerksmeister, war klein, hatte einen Schnurrbart, trug Shorts und Turnschuhe und entstammte einer Dynastie von Glasbläsern, die man ohne Unterbrechung siebenhundert Jahre zurückverfolgen konnte. Seine Vorfahren hatten die Insel nie verlassen, denn damals war es ihnen verboten gewesen, sich von der Lagune zu entfernen. Ansonsten riskierte man die Hinrichtung oder dass einem zur Strafe die Hände abgehackt wurden.
Scarpetta hatte ihm an Ort und Stelle den Auftrag gegeben, für sie und Benton, das glückliche Paar, etwas anzufertigen, was ihm gefiel. Es war eine ganz besondere Reise gewesen, eine wichtige, und sie wollte sich später an jede Minute dieses Tages erinnern. Am nächsten Tag waren Scarpetta und Benton nach Murano zurückgekehrt, um ihre langsam im Ofen gehärtete Skulptur abzuholen. Sie war abgekühlt und in Luftpolsterfolie verpackt. Scarpetta hatte sie als Handgepäck mit an Bord genommen und sie im Gepäckfach verstaut. Es war der Heimflug von einer Geschäftsreise gewesen, die eigentlich nicht Vergnügungszwecken hätte dienen sollen. Aber Benton hatte sie mit einem Heiratsantrag überrascht. Deshalb waren jene Tage in Italien, zumindest für sie, denkwürdig geworden. Sie stellte sie sich als einen Tempel vor, in den sie sich gedanklich zurückzog, wenn sie glücklich oder traurig war. Nun war es, als hätte jemand ihren Tempel mit Füßen getreten und beschmutzt. Scarpetta stellte die Glasskulptur wieder auf den Couchtisch aus Kirschholz, wo sie hingehörte. Als ihr beim Betreten der Wohnung bewusst geworden war, dass sich fremde Menschen hier aufgehalten, Unordnung gemacht und ihr Zuhause wie einen Tatort behandelt hatten, fühlte sie sich missbraucht. Scarpetta ging hin und her und hielt Ausschau nach falsch stehenden oder fehlenden Gegenständen. Sie überprüfte die Waschbecken und die Seifen, um herauszufinden, ob sich jemand die Hände gewaschen oder die Toilette benutzt hatte. »In den Bädern war niemand«, verkündete sie.
Scarpetta öffnete die Fenster im Wohnzimmer, um den Geruch zu vertreiben.
»Ich rieche noch das Paket. Du musst es doch auch riechen«, sagte sie.
»Ich rieche gar nichts.« Benton stand, noch im Mantel, an der Wohnungstür.
»Ja«, beharrte sie. »Du musst es riechen. Wie Eisen. Riechst du es wirklich nicht?«
»Nein«, antwortete er. »Vielleicht ist es nur deine Erinnerung. Das Paket ist weg, und wir sind in Sicherheit.«
»Das liegt daran, dass du es im Gegensatz zu mir nicht in der Hand hattest. Es ist ein Gestank nach Schimmel und Metall«, erklärte sie. »So als ob meine Haut mit Eisenionen in Berührung gekommen wäre.«
Benton erinnerte sie ganz ruhig daran, dass sie beim Halten des Pakets, das möglicherweise eine Bombe enthielt, Handschuhe getragen hatte.
»Aber es hat meine nackte Haut zwischen den Handschuhen und den Manschetten meines Ärmels berührt.« Sie ging zu ihm hinüber.
Das Paket hatte einen Geruch an ihren Handgelenken hinterlassen, ein widerwärtiges Parfüm, lipide Peroxide von Hautfetten und Schweiß, von Enzymen oxidiert, was zum Zerfall führte. Wie bei Blut, erläuterte sie. Der Geruch ähnele dem von Blut.
»So riecht Blut, wenn man es auf die Haut aufträgt«, sagte sie und hielt Benton ihre Handgelenke hin. Er schnupperte daran. »Ich rieche nichts«, wiederholte er.
»Irgendeine Chemikalie auf Petroleumbasis. Ich weiß nicht, was es ist. Jedenfalls riecht es rostig.« Das Thema ließ sie nicht mehr los. »In diesem Karton befindet sich etwas Schreckliches. Ich bin froh, dass du ihn nicht angefasst hast.«
In der Küche wusch sie sich Hände, Handgelenke und Unterarme mit Geschirrspülmittel, als wollte sie sich vor einer Operation desinfizieren oder sich dekontaminieren. Dann bearbeitete sie den Couchtisch, auf dem das Paket gestanden hatte, mit Murphy Oil Soap
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