Scatterheart
aufbringen?
Sie hielt es nicht länger aus. Sie hatte das Gefühl, platzen oder sich in nichts auflösen zu müssen. Die Leere in ihr war zu groß. Sie drohte ganz darin unterzugehen.
»Thomas«, sagte sie.
»Hm?«
Hannah dachte an Scatterheart und den weißen Bären. In dem Märchen klang alles so einfach. Sie musste nur ihren Prinzen finden und dann lebten alle glücklich bis an ihr Lebensende. So war es aber nicht.
Ihre innere Leere ballte sich zu einem kalten, harten Klumpen zusammen.
»Genug«, sagte sie. Ihre Stimme hallte zornig von den Wänden der Höhle wider. »Genug«, sagte sie noch einmal, diesmal lauter, weil sie ihre Zornestränen zu unterdrücken versuchte. »Was ist los mit dir? Ich habe alles aufgegeben,um hierherzukommen, und du schaust mich nicht einmal an. Was ist nur mit dir geschehen?«
Thomas drehte sich zu ihr. Seine Augen waren wild und dunkel wie der Ozean, der Dr. Ullathorne verschlungen hatte. Er schluckte und dann begann er langsam und leise zu berichten.
»Als ich hierherkam, musste ich unter einem Captain Mitchell arbeiten. Er war grausam zu den Sträflingen und nicht viel besser zu seinen Untergebenen. Eines Tages beaufsichtigten wir eine Gruppe von Frauen. Sie mussten für den Bau einer Brücke Eimer voll Erde abtransportieren. Eine der Frauen stolperte und fiel hin. Captain Mitchell zog sie an den Haaren hoch und sie beschimpfte ihn. Da befahl er mir, sie zur Strafe auszupeitschen. Ich sagte ihm, dass ich so etwas nicht tun würde. Ich kann eine Frau nicht schlagen und sie hatte nichts verbrochen. Er zog seine Pistole, hielt sie mir an die Schläfe und befahl mir zu gehorchen, sonst würde er mich töten. Dann habe ich sie ausgepeitscht. Aber ich war ganz vorsichtig. Ich ließ die Peitsche knallen, als ob ich sie schlagen würde, doch ich berührte sie nur leicht wie ein Schmetterling. Ich starrte die Frau an und betete, dass sie meine Absicht merken und so tun würde, als täte ich ihr weh. Aber sie spielte nicht mit, und als ich fertig war, riss Captain Mitchell ihr das Kleid vom Leib. Sie hatte keinen einzigen Striemen. Also machte er es selbst. Er befahl ihr, sich nackt auszuziehen. Anschließend schluger zu. Einhundert Peitschenhiebe und jeder einzelne fühlte sich an, als schlüge er mich. Nach siebzig verlor sie das Bewusstsein, doch er machte weiter. Dieses … Leuchten in seinen Augen, Hannah. Er genoss es. Er genoss es, sie schreien zu hören. Er genoss es, die Hautfetzen zu sehen, die sich von ihrem Rücken lösten. Als er fertig war, schüttete er einen Eimer Salzwasser über sie, damit sie wieder zu sich kam. Dann ließ er sie in die schwarze Zelle werfen.«
»Die schwarze Zelle?«
Thomas nickte und biss sich auf die Lippe. »Das ist ein unterirdischer Schacht, der mit Wasser gefüllt ist. Dorthinein wurde sie geworfen, nackt und blutend, zwei Tage lang.«
Hannah wurde übel. Sie dachte an den dunklen Bau auf der
Derby Ram
und an die Schläge des Fabrikvorstehers. »Aber das war doch nicht deine Schuld.«
Thomas holte tief Luft. »Danach ging ich in eine Schankstube. Ich wollte vergessen. Jedes Mal wenn ich die Augen zumachte, sah ich ihr Gesicht vor mir. Ich trank zu viel. Dann kam einer der anderen Offiziere und erzählte mir, dass die Frau in der Zelle wieder in Ohnmacht gefallen war. Sie war ertrunken.« Er unterbrach sich und starrte auf seine Hände. Hannah dachte, er hätte zu Ende erzählt, aber dann sprach er weiter, diesmal schneller.
»Ich dachte nicht nach, ich war zu betrunken. Ich fühlte mich nicht mehr schuldig, sondern war nur noch wütend.Auf einmal hatte ich nur noch das genussvolle Grinsen dieses Scheusals vor Augen, als er sie gefoltert hat. Ich verließ die Schankstube und ging direkt zu seinem Haus. Ich schlich mich nicht an und machte auch sonst kein Geheimnis daraus. Die Leute sahen mich hineingehen und sie sahen mich auch wieder hinausgehen, mit seinem Blut an den Händen.«
Hannah schloss die Augen.
»Ich habe ihn erschossen, Hannah. Ich habe kaltblütig einen Menschen umgebracht.« Er sprach nicht weiter und blickte auf den braunroten Fleck in der Nähe des Lagerfeuers. »Zwei Menschen.«
Hannah atmete schwer aus, sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte. »Das ist mir egal«, sagte sie. »Ich habe auch jemanden umgebracht. Ich habe ihn mitten im Sturm über Bord gestoßen. Sein Gesicht verfolgt mich jede Nacht, das kannst du mir glauben.«
Thomas seufzte. »Das Leben ist kein Märchen, Hannah. Ich kann
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