Scatterheart
hin offen war, darüber befanden sich noch weitere Decks.
Das Schiff war riesig. Männer rannten hin und her, kletterten an den Masten empor und sicherten die Leinen. Über ihr, auf einem der oberen Decks, standen Männer in Uniform und schrien unverständliche Kommandos. Eine schrille Pfeife trillerte.
Hannah blinzelte. Überall waren Leinen gespannt, manche zogen sich bis zu den höchsten Mastspitzen hinauf, liefen über Kreuz und im Kreis wie ein kompliziertes Netz aus Spinnweben. Der Wind fuhr in Hannahs Haare und wehte den dumpfen Fischgeruch fort. Zumindest so weit, dass es nicht mehr unangenehm war.
»Nein«, flüsterte Hannah, »das ist ein Missverständnis.«
»He!«, schrie ein Matrose. »Du darfst hier nicht rauf. Bracegirdle hat noch nicht zum Frühstück geläutet.«
Er packte Hannah am Handgelenk. Seine Arme waren sehr kräftig, trotzdem konnte sie sich losreißen und über das Deck auf die andere Seite rennen, wo lauter runde Löcher den Schiffsrumpf spickten.
Das Schiff rollte über eine Woge. Hannah fiel auf alle viere und schmeckte die salzige Gischt auf ihren Lippen. Sie klammerte sich an die Reling und zog sich wieder hoch. Ihre Verzweiflung machte einem eigenartigen Staunen Platz.
Verblüfft sah sie auf das Meer hinaus.
»Sie sind also aufgewacht«, sagte jemand.
Neben ihr stand ein Mann in Offiziersuniform und mit einem Strohhut. Hannah schätzte, dass er etwas älter als Thomas, aber jünger als ihr Vater war. Um seine Ohren kräuselten sich dunkelbraune Locken, die mit einem schwarzen Samtband zu einem straffen Pferdeschwanz nach hinten gebunden waren. Er hatte eine helle Haut und volle rote Lippen. Seine Augen waren ungewöhnlich blau und von langen dunklen Wimpern eingerahmt.
Der Mann lächelte Hannah an. Sie errötete und sah wieder auf das Meer hinaus. Sie spürte ein angenehmes Kribbeln im Bauch, aber dann erinnerte sie sich, dass sie eine Gefangene war, und ihr fuhr ein Stich in den Magen. Warum sprach er sie überhaupt an?
»Anders als Sie erwartet haben?«, fragte er.
»Es ist blau!«
Der junge Mann lachte. »Was haben Sie denn gedacht?
Rot? Lila?«
Hannah schüttelte den Kopf. »Ich hätte niemals geglaubt, dass es so …« Sie sprach nicht weiter. Sie hatte sich das Meer immer grau vorgestellt, grau wie die Augen von Thomas Behr.
»… so blau ist? Haben Sie etwa noch nie das Meer gesehen?« Das Wasser hatte tatsächlich genau die gleiche Farbe wie die Augen des jungen Offiziers. Hannah blinzelte. Sie waren wirklich sehr blau.
»Nein, noch nie«, antwortete sie.
»Aber Sie kennen es doch bestimmt von Bildern?«
»Natürlich«, sagte Hannah, »aber ich habe gedacht – ich habe gedacht, das wäre nur Kunst … Auf manchen Gemälden ist auch die Themse blau.«
Der Offizier schmunzelte. »Und, wie gefällt es Ihnen?« Hannah blickte über die unendliche Weite des Meeres.
»Es ist erschreckend«, sagte sie schließlich, »und schön.
Und der Himmel ist so …«
»Blau?«, half ihr der Mann.
Hannah nickte. »Ja, sehr blau.«
»Ich heiße übrigens James«, stellte sich der Offizier vor.
»James Belforte, Leutnant zur See.«
»Hannah«, erwiderte Hannah. »Hannah Cheshire, Gefangene aus Irrtum.«
James Belforte tippte grüßend an seinen Hut und sah sie freundlich an.
»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Hannah Cheshire.« Er verneigte sich. »Und nun verraten Sie mir bitte, was um alles in der Welt eine junge Dame von Stand in so einer schrecklichen Gesellschaft zu suchen hat.«
Hannah seufzte erleichtert.
»Mein Vater …«, setzte sie an, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Alles ist schiefgelaufen.«
Tränen stiegen ihr in die Augen.
Der Leutnant lächelte. »Seien Sie beruhigt«, sagte er, »ich werde dafür sorgen, dass Ihnen nichts passiert.«
Hannah errötete. Sie legte den Kopf nach hinten und sog die warmen Sonnenstrahlen auf. Der Wind war frisch und roch sauber und salzig. Hannah atmete tief ein und aus, ihre Angst war vergessen. Sie fühlte sich lebendig wie seit Wochen nicht mehr.
»Ich habe Hunger«, sagte sie über sich selbst überrascht. James lachte. »Frühstück ist in einer halben Stunde. Willkommen an Bord der
Derby Ram
.«
»Also, wenn das nicht unsere Lady höchstpersönlich ist. Geruhen Gnädigste mit uns Straßenkötern gemeinsam zu speisen?«, fragte Long Meg grinsend und kämpfte sich mit den anderen Frauen zur Essensausgabe auf dem oberen Deck vor.
Die Frauen stießen und drängelten, um möglichst weit nach vorne
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