Scatterheart
gehen, das östlich der Sonne und westlich des Mondes liegt.« Mit diesen Worten verschwand der Bär.
Jemand beugte sich über Hannah, sprach mit ihr und fragte sie etwas. Aber es klang wie von weit her und sie vernahm nur ein undeutliches hohles Echo. Sie blinzelte, um einen klaren Kopf zu bekommen.
Die Person fasste ihr an die Stirn. Die Hand brannte wie glühende Kohlen.
Hannah zitterte. Die Person ging in die Knie und sagte etwas.
»Mr Behr?«, fragte Hannah. Auch ihre Stimme klang, als käme sie von weit her.
Wieder sagte die Person etwas. Ja, es war Thomas. Tränen der Erleichterung stiegen in Hannahs Augen. Thomaswollte ihr etwas sagen. Seine Stimme klang eindringlich. Hannah fror und wunderte sich über die Kälte in ihrem Zimmer. Sie wollte Thomas bitten, Kohlen nachzulegen, aber sie brachte alle Worte durcheinander und er konnte sie offenbar nicht verstehen. Plötzlich begann es zu schneien.
Ein stichartiger Schmerz fuhr ihr in die Stirn. Der Schnee war von einem nie zuvor gesehenen Weiß. Er legte sich wie eine Decke auf Thomas’ Kopf und Schultern, wie ein Mantel aus weißem Pelz.
Hannah streckte ihre Hand aus und wollte ihn streicheln, aber sie verlor die Orientierung und fasste in die entgegengesetzte Richtung. Ihre Hand berührte etwas Hartes, Kaltes. Einen Baum aus Eis.
Sie war im Eisgarten!
Mr Behr hatte ihr verboten den Eisgarten zu betreten. Warum hatte er das getan? Es hatte etwas mit ihrem Vater zu tun, der das ganze Geld ihrer Mutter ausgegeben hatte und verhaftet worden war. Mr Behr war schrecklich wütend gewesen und hatte sie angeschrien und sie gebeten, nicht in den Eisgarten zu gehen.
Wenn es doch nur zu schneien aufhören würde.
Thomas drückte ihr etwas in die Hand und sie schlang ihre Finger um seinen Arm. Er war mit drahtigen, hellen Haaren bedeckt. Sie strich sacht darüber und erschrak, denn es war richtiges Fell. Der weiße Schnee hatte sich in einen dicken Pelz verwandelt.
»Du bist also der weiße Bär«, sagte sie. »Das habe ich mir gedacht.«
Sie betrachtete das Ding, das er ihr gegeben hatte. Es war eine blaue Frucht, die in ihrer Größe und Form einem Pfirsich ähnelte.
Hannah öffnete den Mund und wollte hineinbeißen. Aber die Frucht fühlte sich mit einem Mal so anders an. Ihre Lippen berührten etwas Kleines, Hartes, das kühl wie Metall war. Eine geschmacklose, zähe Flüssigkeit füllte ihren Mund und sie musste unwillkürlich schlucken.
»Braves Mädchen«, sagte eine vertraute Stimme.
Einen Augenblick lang sah Hannah alles ganz scharf. Sie war wieder in der Zelle und über ihr stand ein Mann mit schwarzem Mantel und Hut, der einen silbernen Löffel in der Hand hielt. Dann war sie wieder im Eisgarten.
Thomas beugte sich über sie, das Fell gesträubt.
»Was hast du getan?«, schrie er.
Hannah streckte den Arm aus und fasste ihn bei seiner Pranke.
Sie war eiskalt.
Thomas brüllte vor Schmerzen auf.
Seine Pranke schmolz und wurde immer kleiner. Kaltes Wasser tropfte zwischen ihren Fingern hindurch. Auch aus seinem Pelz floss Wasser und er schrumpfte zusehends in sich zusammen.
»Was hast du getan?«, brachte er noch einmal hervor.
Seine Stimme war nur noch ein Flüstern und erstarb dann ganz. Hannahs Hand griff ins Leere. Schließlich schmolz auch das letzte Stück von ihm dahin und ließ sie in einer Pfütze zurück.
Als Scatterheart am nächsten Morgen aufwachte, war das Schloss verschwunden und sie lag auf einer kleinen grünen Lichtung inmitten eines tiefen, dunklen Waldes. Neben ihr lag das kleine Bündel, das sie von zu Hause mitgebracht hatte. Scatterheart seufzte und machte sich auf den langen Weg zu ihres Vaters Haus.
Hannah dämmerte von einer Ohnmacht in die nächste. Von Zeit zu Zeit kam der Arzt, schob ihr einen Silberlöffel in den Mund und verabreichte ihr die geschmacklose glibberige Flüssigkeit. Nach diesen Besuchen musste Hannah oft heftig erbrechen und schlief dann viele Stunden lang. Wenn sie wieder aufwachte, waren ihre Glieder lahm und schwer, ihre Sicht war verschwommen und ihre Ohren waren fast taub. Sie bekam viel Besuch: Long Meg, ihr Vater und einmal eine zierliche Frau, die Hannah für ihre Mutter hielt.
Thomas aber besuchte Hannah nicht wieder, egal wie oft sie nach ihm rief. Sie sehnte sich nach ihm. Aber er warfortgegangen. Wohin wusste Hannah nicht. Irgendwohin. Östlich der Sonne, westlich des Mondes. Hannah überlegte, wie sie ihm folgen könnte.
Sie kratzte fieberhaft ihre Arme und Beine, die von einem
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