Scatterheart
Hannah«, sagte ihr Vater, indem er sich erhob und seinen Brandy austrank, »Mr Harris ist ein sehr reicher Mann. Du sollst einen guten Eindruck auf ihn machen. Er besitzt ein Haus am Grosvenor Square.«
Er legte einen manikürten Finger an ihre Wange, dann verließ er mit wehendem Morgenmantel das Zimmer.
Hannah zog eine Grimasse bei der Vorstellung, einen ganzen Abend in Mr Harris’ Gesellschaft verbringen undseinem Schnaufen und Stottern zuhören zu müssen, während die Schweißflecken unter seinen Armen immer größer wurden. Thomas Behr hasste Mr Harris und nannte ihn einen Speichellecker.
Hannah seufzte und stocherte mit ihrer Gabel halbherzig im Rührei herum. Eigentlich spielte es keine Rolle, was Thomas Behr dachte, denn ihr Vater wollte ihn entlassen. Als Hannah jünger war, hatten sich Thomas und sie immer Geschichten über die Tiere ausgedacht, die in dem türkischen Teppich im Salon eingewebt waren. Hannah hatte ihm von den unerhörten Abenteuern der Tiger und Elefanten erzählt, und er hatte gelacht, bis ihm die Tränen gekommen waren.
Sie legte die Gabel beiseite und erhob sich. Ihr blieben nur noch wenige Unterrichtsstunden mit Thomas. Zum Monatsende musste er gehen und sie würde ihn vielleicht nie mehr wiedersehen. Sie dachte an seinen zerknitterten Mantel und seine Schneetiere. An die Art, wie er sie manchmal ansah. Sie dachte daran, wie sie im Park am liebsten sein Haar berührt hätte. Dann stellte sie sich selbst in Juwelen und herrlichen Kleidern vor und malte sich aus, wie sie in ihrer eigenen Kutsche durch den Hyde Park fuhr. Vielleicht hatte ihr Vater recht und es war wirklich an der Zeit, erwachsen zu werden.
Die meisten Menschen in der Zelle starrten einfach ins Leere und warteten oder dösten vor sich hin. Der Hunger nagte an Hannah. Das Wasser, das sie getrunken hatte, schwappte in ihrem leeren Bauch hin und her. Als das trübe Zellenlicht verblich, lehnte Hannah den Kopf an die kalten Eisenstäbe. Sie zitterte vor Schwäche.
»Ui! Gnädiges Frollein!«, ertönte die Stimme jener Frau, die ihre Haube aufhatte. »Wieso poliert Ihr das königliche Eisen mit Euren Augenbrauen? Kommt lieber hier herüber.«
Hannah stand unsicher auf und schaute sich um. Die Frau und Black Jack lümmelten auf der Holzpritsche und tranken aus einer braunen Glasflasche.
»Immer noch hungrig?«, fragte die Frau.
Hannah nickte und fasste an die Knöpfe ihres pelzbesetzten Mantels. Ihr Vater hatte ihn ihr im vergangenen Jahr zum Geburtstag geschenkt. Er war in dezent duftendes Seidenpapier eingewickelt gewesen und hatte in einer weißen Schachtel mit grünem Samtband gelegen. Die Frau sah Hannah bedeutungsvoll an. Hannah seufzte und nestelte an den Knöpfen.
Sogleich klemmte sich die Frau die Flasche zwischen ihre Knie und streckte die Hände aus. Hannah hielt ihr den dunkelgrünen Mantel hin. Die Frau stand auf und zog ihn an. Er spannte um die Schultern und die Brust und reichte ihr nur bis zur Wade. Aber sie schnallte den Gürtel zu und stolzierte wie ein Pfau durch die Zelle.
»Na, wie sehe ich aus, Leute? Ein wahres Juwel, oder nicht?«
Black Jack gluckste. Er war sehr groß, größer als Thomas Behr.
»Warte!«, sagte Hannah.
Die Frau blieb stehen. »Geschäft ist Geschäft«, sagte sie finster.
»Nein«, entgegnete Hannah, »ich wollte nur …« Sie holte tief Luft. »In der Tasche von meinem – von Ihrem Mantel. Da ist etwas, etwas, das für mich kostbar ist.«
Die Frau legte ihren Kopf schräg. »Kostbar? So, so. Was ist es denn? Gold? Juwelen? Ein Briefchen von deinem Liebsten? So ein hübsches Püppchen wie du hat doch bestimmt einen stattlichen Herzensbrecher am Rockzipfel.« Sie wühlte in der Manteltasche und zog ein Taschentuch hervor. Es war zerknittert und auch ein wenig schmutzig. Sie sah erstaunt auf.
»Das? Das soll kostbar sein?«
Hannah nickte. »Bitte.«
Achselzuckend reichte die Frau Hannah das Taschentuch. Hannah wickelte es sich um ihre Hand.
In der nächsten Unterrichtsstunde sprach Thomas Behr weder über die griechischen Sagen noch über die Reisen des Kolumbus. Und er erzählte auch keine Geschichtenvon Eispalästen und tückischen Winden. Er war förmlich, fast ein wenig unbeholfen. Hannah gähnte.
Thomas seufzte und machte ihr einen Vorschlag. »Sollen wir spazieren gehen? Bestimmt hat dein Vater nichts dagegen, wenn wir das Britische Museum besuchen.«
»Vater hat gemeint, es sei zu kalt zum Ausgehen. Er sagt, ich habe eine schwache Brust.«
»Dein Vater
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