Scatterheart
war ein Bär.
Ein großer weißer Bär.
Er schritt über das Wasser wie über eine feste Eisschicht und trottete geradewegs auf das Schiff zu. Hannah klammerte sich an das Geländer und wieder lösten sich Eiskristalle und fielen klirrend vor ihre Füße.
Der Bär kam näher.
Er war riesengroß, fast ein Drittel so groß wie die
Derby Ram
. Er hatte einen geschmeidigen, kräftigen Körper, einen lang gestreckten Hals und einen kantigen, nach unten geneigten Kopf. Seine kleinen, spitzen Ohren waren aufgerichtet und die schwarzen Augen funkelten im Mondlicht. Sein dichtes weißes Fell hing lappig an ihm herab. Er hatte nichts mit dem geschundenen, verdreckten Eisbären gemeinsam, der beim Frostmarkt mit den Hunden gekämpft hatte.
Als er das Heck der
Derby Ram
erreicht hatte, stellte er sich auf die Hinterbeine. Hannah sah ihn voller Furcht an. Seine Beine standen fest auf dem vereisten Meer und sein Kopf befand sich auf ihrer Höhe.
Hannah hielt den Atem an.
Der Bär setzte die Pranken auf das Heck und schaute ihr ins Gesicht. Seine schwarzen Augen funkelten. Sein Atem war eiskalt und roch nach Winter. Der Bär öffnete das Maul und brüllte.
Ein eisiger Wind fuhr durch Hannahs Haare. Beim Anblick der riesigen gelben Zähne und der feuchten schwarzen Schnauze schreckte sie zurück. Der Bär spannte die Muskeln an und sein Fell erbebte in Wellen. Die Augen nicht von ihr lassend, begann er zu schieben.
Das Schiff rührte sich träge. Der Bär drückte noch stärker. Die Spanten ächzten unter der ungewohnten Bewegung. Der Bär drückte und drückte.
Hannah machte einen Schritt nach vorn und streckte zitternd die Hand aus. Das Schiff ruckte ein winziges Stück vorwärts.
Sie berührte den Bären an seiner riesigen Pranke. Sie spürte seine harten Klauen, sein raues, dickes Fell, die angespannten Muskeln.
Und dann bewegte sich die
Derby Ram
wieder ein Stückchen vorwärts, wie ein aus tiefem Schlaf erwachtes Tier, und glitt langsam durch das stille Wasser.
Der Bär ließ das Heck los.
Hannah spürte, wie Fell und Klauen sacht ihren Fingern entglitten. Das mächtige Tier ließ sich auf alle viere fallen. Kleine Wellen pflanzten sich vom Schiff aus fort und umringten den Bären.
Er sah ihr nach, während das Schiff langsam aus der Flaute glitt. Schließlich war er wieder ein kleiner weißer Fleck wie am Anfang und flimmerte aus ihrem Blickfeld. Hannah drehte sich um, ging zu ihrer Koje zurück und schlief augenblicklich ein.
Im Schloss war die Tafel für ein großes Festmahl gedeckt und am Kopf der Tafel saß ein Prinz, der war unvorstellbar schön. Scatterheart nahm Platz und begann zu essen, aber die Speisen schmeckten nach Asche und die Zunge des Prinzen züngelte aus seinem Mund wie bei einer Schlange. Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ihr seid nicht mein weißer Bär«, sagte es und verließ das Schloss.
Hannah erwachte und spürte das vertraute Auf und Ab des Schiffs auf den Wellen. Ihre Finger waren um Thomas’ Taschentuch geschlungen. Oben an Deck beugten sich Männer wie Frauen über die Reling und ließen sich den Wind um die Nase wehen. Die Segel waren straff gespannt und die
Derby Ram
schnitt wie ein Messer durch das warme Meerwasser. Es war immer noch heiß, aber der Wind hatte die erdrückende Hitze, die während der Flaute geherrscht hatte, verscheucht und alle waren zum Feiern aufgelegt. Tam Chaunter holteseine Fidel hervor und Hopping Giles begann ein Liedchen zu singen.
Seemann, lass das Träumen, denke nicht an mich.
Seemann, denn die Fremde wartet schon auf dich
.
Die übrigen Matrosen stimmten in den Refrain ein.
Deine Heimat ist das Meer,
deine Freunde sind die Sterne,
deine Liebe ist dein Schiff,
deine Sehnsucht ist die Ferne
.
Hannah schlängelte sich durch das Gewühl von Sträflingen, Matrosen und Offizieren und suchte Molly. Als sie hinter dem dicken Großmast nachschauen wollte, stand plötzlich James vor ihr.
»Suchen Sie mich?«, fragte er lächelnd.
Hannah öffnete den Mund, brachte aber kein Wort hervor. Sie dachte an den weißen Bären und an Thomas’ Taschentuch.
James nahm ihre Hand und führte sie zur Reling. Die Matrosen hatten Angelschnüre ins Wasser geworfen und zogen silbrige Thunfische aus dem Meer. Zum Abendessen würde es frischen Fisch geben.
»Ich habe gute Neuigkeiten«, begann James. »Ich habe Captain Gartside überreden können, dass ich in NewSouth Wales bleiben darf. Dort werden noch Offiziere für die Verwaltung der größer werdenden Kolonie
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