Schachfigur im Zeitspiel
ich getötet werden wollte.« Und Icara, dachte er.
»Diese Person hat vermutlich gesehen, wie Sie allein, bei Nacht und zu Fuß auf dem öffentlichen Highway herumgestreift sind.«
»Ja«, sagte Parsons.
»Das ist eine der Lieblingsmethoden von Leuten, die gewissermaßen kühne Individualisten mit einem Hang zum Spektakulären sind. Sie verlassen die Stadt, gehen hinaus auf den Highway, und es ist Sitte, daß die Autofahrer, die sie sehen, sie auch überfahren. Das ist eine altehrwürdige, etablierte Tradition. Sind in Ihrer Gesellschaft nicht auch Leute bei Nacht hinausgegangen, auf Brücken, zum Beispiel und haben sich dann hinuntergestürzt?«
Parsons sagte: »Aber das waren unbedeutend wenige, eine geistig gestörte Minderheit.«
»Nichtsdestotrotz war die Sitte in der Gesellschaft etabliert! Sie wurde verstanden. Wenn man beschlossen hatte, sich umzubringen, war das die richtige Art und Weise.« Stenog redete eindringlich und hitzig weiter: »Eigentlich wissen Sie nichts über diese Gesellschaft – kommen Sie einmal hierher. Sehen Sie sich das an.«
Sie befanden sich in einem riesigen Raum. Parsons hielt inne, beeindruckt von dem Irrgarten aus Korridoren, die sich in alle Richtungen erstreckten. Selbst bei Nacht ging hier die Arbeit weiter: Die Korridore waren erhellt, Menschen eilten geschäftig umher.
In eine Wand des Raumes war ein Fenster eingelassen, durch das man auf den Rand eines Quaders hinaussehen konnte. Als Parsons in diese Richtung ging, entdeckte er mit einem jähen Erschrecken, daß er nur eine Fläche des Quaders sehen konnte. Buchstäblich der ganze Rest davon ruhte im Boden versenkt, und er konnte nur vage schätzen, wie er in voller Größe aussah.
Der Quader lebte.
Die unaufhörliche Unterströmung dröhnte direkt vom Boden herauf, und er fühlte, wie sie sich durch seinen Körper fortpflanzte. Eine Illusion, geschaffen von den unzähligen Technikern, die hier überall hin und her eilten? Selbstgesteuerte Lastenaufzüge beförderten leere Behälter hoch, beluden sich mit neuem Material und sanken wieder herab. Bewaffnete Wächter streiften umher, behielten die Dinge im Auge. Er stellte fest, daß sie sogar Stenog beobachteten. Aber das Gefühl von Leben war keine Illusion, denn er spürte die Ausstrahlung des Quaders, das Wühlen. Ein kontrollierter, genau bemessener Metabolismus, jedoch mit einem eigenartigen Unterton von Unruhe. Kein gemächliches Leben, sondern mit der Ebbe und Flut der Meeresgezeiten, beunruhigend für ihn, aber auch für die anderen Leute. Er entdeckte auf ihren Gesichtern dieselbe Ermüdung und Anspannung, die er auch bei Stenog festgestellt hatte.
Und er fühlte Kälte aus dem Quader aufsteigen.
Seltsam, dachte er. Lebendig und kalt – nicht wie unser Leben, nicht warm. In der Tat konnte er den Atemhauch der Menschen in den Korridoren sehen, seinen eigenen, den von Stenog, ein weißer Nebel, von jedem von ihnen ausgestoßen. Das Pneuma.
»Was ist darin?« fragte er Stenog.
Stenog sagte: »Wir.«
Zuerst verstand er es nicht und nahm an, der Mann würde das im übertragenen Sinne meinen. Dann, allmählich, begann er zu begreifen.
»Befruchtete Zellen«, sagte Stenog. »Hundertmilliardenfach gehemmt und in Kältekonservierung eingefroren. Unsere komplette Nachkommenschaft. Unsere Horde. Die ganze Rasse ist dort drinnen. Diejenigen von uns, die jetzt hier umhergehen …« Er machte eine wegwerfende Bewegung. »Ein einziger Bruchteil dessen, was dort drinnen ist. Dort sind die zukünftigen Generationen, die nach uns kommen.«
Also ist ihr Verstand nicht auf die Gegenwart fixiert, dachte Parsons, die Zukunft ist es, die für sie real ist. Diejenigen, die nach ihnen kommen, sind in gewissem Maße realer als jene, die jetzt hier herumlaufen.
»Wie wird es gesteuert?« fragte er Stenog.
»Wir bewahren eine konstante Bevölkerungszahl. Grob gesagt: zweidreiviertel Milliarden. Jeder Tod setzt automatisch ein neues befruchtetes Ei aus der Kältekonservierung auf seinen regulären Entwicklungsweg in Marsch. Für jeden Tod gibt es augenblicklich neues Leben, beides ist ineinander verwoben.«
Parsons dachte: Also entsteht aus dem Tod neues Leben. In ihrer Weltanschauung ist der Tod Ursache für das Leben.
»Woher kommt das befruchtete Ei?« erkundigte er sich.
»Das wird nach einem besonderen und sehr komplizierten System bereitgestellt. Jedes Jahr veranstalten wir Turniere, Wettbewerbsprüfungen zwischen den Stämmen. Wir haben Tests, die alle
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