Schachfigur im Zeitspiel
vermeiden, mit seinem Wagen aufzufahren. Er ist ein vorsichtiger Fahrer. Was für ein Widerspruch.
In der Gesellschaft, aus der ich komme … … denkt niemand über den Tod nach. Das System, in das er hineingeboren worden und in dem er aufgewachsen war, hatte keine Erklärung für den Tod. Ein Mensch lebte einfach sein Leben zu Ende und versuchte so zu tun, als würde er nicht sterben.
Was war realistischer? Die Integration des Todes in dieser Gesellschaft oder die neurotische Weigerung seiner Gesellschaft, den Tod überhaupt in Betracht zu ziehen? Eigentlich sind wir wie Kinder, stellte er fest. Nicht fähig und bereit, sich den eigenen Tod vorzustellen … So hat meine Welt funktioniert, bis uns das Massensterben alle eingeholt hat.
»Ihre Vorfahren«, sagte Stenog, »die frühen Christen, meine ich, haben sich unter die Räder von Streitwagen geworfen. Sie haben den Tod gesucht, und doch ist aus ihrem Glauben Ihre Gesellschaft entstanden.«
Parsons sagte langsam: »Vielleicht ignorieren wir den Tod, vielleicht leugnen wir unreif die Existenz des Todes, aber wenigstens buhlen wir nicht um ihn.«
»Indirekt habt ihr es getan«, sagte Stenog. »Dadurch, daß ihr eine derart starke Realität geleugnet habt, habt ihr die rationale Grundlage eurer Welt untergraben. Ihr habt keine Chance gehabt, mit Krieg und Hungersnot fertig zu werden, weil ihr euch nicht dazu durchringen konntet, sie zu diskutieren. Deshalb ist euch der Krieg zugestoßen, er war wie eine Naturkatastrophe, überhaupt nicht von Menschen gemacht. Er wurde zu einer Gewalt. Wir kontrollieren unsere Gesellschaft. Wir ziehen alle Aspekte unserer Existenz in Betracht, nicht nur die guten und angenehmen.«
Den Rest der Fahrt saßen sie schweigend nebeneinander.
Nachdem sie aus dem Wagen gestiegen und die Vorderstufen des Hauses hinaufgegangen waren, hielt Stenog an einem Strauch an, der vor der Veranda wuchs. Er lenkte Parsons Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Blüten, auf die der Lichtschein aus einem Fenster fiel. »Was sehen Sie hier wachsen?« fragte er und hob einen schweren Stengel an.
»Eine Knospe.«
Stenog hob einen anderen Stiel an. »Und das hier ist eine Blüte in voller Pracht. Und dort drüben ist eine welkende Blume, die ihre Blütezeit hinter sich hat.« Er zog ein Messer aus dem Gürtel und trennte die welke Blume mit einem schnellen, sauberen Hieb von dem Strauch ab und warf sie über das Geländer. »Sie haben drei Dinge gesehen: die Knospe, die das kommende Leben ist, die Blüte, die das Leben ist, das jetzt abläuft, und die abgestorbene Blüte, die ich weggeschnitten habe, damit sich neue Knospen bilden können.«
Parsons war tief in Gedanken versunken. »Aber irgendwo auf dieser Welt gibt es jemanden, der nicht so denkt wie Sie. Das muß der Grund sein, weshalb ich hierhergebracht worden bin. Früher oder später …«
»… werden sie auftauchen?« beendete Stenog den Satz mit einem freudlosen Lächeln.
Ganz plötzlich verstand Parsons, weshalb keine Anstalten gemacht wurden, ihn unter sorgfältiger Bewachung zu halten. Warum Stenog ihn so offen und bereitwillig in der Stadt herumfuhr, ihn in sein Haus und zum Quell mitnahm.
Sie wollten, daß der Kontakt aufgenommen wurde.
Im Innern des Hauses, im Wohnzimmer, saß Amy am Cembalo. Zuerst kam Parsons die Musik unbekannt vor, aber nach einer Weile wurde ihm bewußt, daß sie Melodien von Jelly Roll Morton spielte, jedoch mit einem seltsamen, ungenauen Rhythmus.
»Ich habe nach etwas aus Ihrem Zeitalter gesucht«, sagte sie und unterbrach ihr Spiel. »Sie haben Morton nicht zufällig irgendwann einmal kennengelernt, oder? Wir sind der Meinung, er ist Dowland und Schubert und Brahms ebenbürtig.«
Parsons sagte: »Er hat vor meiner Zeit gelebt.«
»Spiele ich ihn falsch?« fragte sie, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. »Ich war schon immer von der Musik dieser Zeit begeistert. In der Tat habe ich sogar eine Arbeit darüber geschrieben, in der Schule.«
»Zu schade, daß ich nicht spielen kann«, sagte er. »In unserem Zeitalter hatten wir Fernsehen. Es ist ziemlich aus der Mode gekommen, ein Musikinstrument spielen zu lernen, um so gesellschaftliche oder kulturelle Erfahrungen zu sammeln.« Tatsächlich hatte er nie ein Musikinstrument – von welcher Art auch immer – gespielt, und das Cembalo erkannte er nur deshalb, weil er in einem Museum eines gesehen hatte. Diese Kultur hatte Elemente aus Jahrhunderten vor seiner Zeit wiederbelebt, hatte sie zu einem
Weitere Kostenlose Bücher