Schachfigur im Zeitspiel
Schlaf immerwährend und natürlich, und er endete nur in ungewöhnlichen Momenten. Und bald würde er niemals mehr enden.
»Madam«, sprach er.
Neben ihm sagte ein bewaffneter Diener: »Denken Sie daran, sie ist taub. Gehen Sie näher, dann wird sie von Ihren Lippen ablesen können.«
Das tat er.
»Sie werden es also wieder versuchen«, sagte Nixina. Ihre Stimme war ein trockenes, krächzendes Flüstern.
»Ja«, antwortete er.
»Haben Sie gewußt«, flüsterte sie, »daß ich bei den anderen Unternehmungen dabei war?«
Er konnte es kaum glauben. Bestimmt war die Anstrengung …
»Ich habe vor, auch dieses Mal mitzukommen«, teilte sie ihm mit. »Es ist mein Sohn, erinnern Sie sich?« Ihre Stimme gewann plötzlich an Kraft. »Wenn ihn irgend jemand schützen kann, dann bin ich das, meinen Sie nicht auch?«
Es gab nichts, was er darauf sagen konnte.
»Helmar hat mir einen besonderen Stuhl gebaut«, sagte sie, und in ihrem Tonfall hörte er etwas, das ihm eine ganze Menge sagte. Er hörte Autorität.
Sie war nicht immer alt gewesen. Einst war sie jung, nicht blind und nicht taub und nicht gebrechlich. Diese Frau war für alle anderen der Motor. Sie erlaubte ihnen nicht aufzuhören, würde es ihnen nie erlauben. Solange sie lebte, würde sie dafür sorgen, daß sie ihrer Mission treu blieben. So wie sie auch bei ihrem Sohn dafür gesorgt hatte, daß er seiner Mission treu blieb – bis zum Augenblick seines Todes.
Jetzt sank ihre Stimme in das angestrengte Flüstern zurück. »Deshalb«, fuhr sie fort, »werde ich vollkommen sicher sein. Ich habe nicht vor, mich in das einzumischen, was Sie tun werden.« Traurig fragte sie: »Würde es Ihnen etwas ausmachen … Können Sie mir sagen, was Sie zu tun gedenken? Man sagt, Sie haben eine Idee, die nützlich sein könnte.«
»Das hoffe ich«, erwiderte er. »Aber ich weiß es nicht.« Dann schwieg er. Eigentlich gab es nichts, was er ihr sagen konnte. Alles war so hypothetisch.
Die müden Lippen bewegten sich. »Ich werde meinen Sohn lebend sehen«, sagte sie. »Er läuft die Klippe entlang. Da ist diese Waffe in seiner Hand … Er geht, um diesen Mann zu töten …« Haß und Abscheu erfüllten ihre Stimme. »Diesen Entdecker .« Lächelnd schloß sie die Augen und verfiel unmerklich wieder in Schlaf. Die Energie, die Autorität waren versiegt. Sie konnten jetzt nicht mehr aufrechterhalten werden.
Parsons wartete noch ein paar Sekunden ab, dann schlich er auf Zehenspitzen davon und verließ das Zimmer.
Draußen begegnete ihm Loris. »Sie ist eine unglaubliche starke Persönlichkeit«, murmelte er, noch ganz unter ihrem Bann.
»Du hast es ihr gesagt?« fragte Loris.
»Es gab verdammt wenig zu sagen«, brummte er und fühlte sich nutzlos. »Außer, daß ich in die Vergangenheit gehen will.«
»Wird sie versuchen, auch dieses Mal wieder mitzukommen?«
»Ja«, sagte er.
»Dann werden wir ihr diesen Wunsch erfüllen müssen. Niemand widersetzt sich ihrem Entschluß. Du kennst sie jetzt, du hast ihre Kraft gespürt.« Loris hob in bitterer Resignation die Hände. »Du kannst ihr keinen Vorwurf machen. Wir alle wollen ihn sehen, ich, Jepthe, die alte Dame … Wir bekommen diese eine Sekunde und sehen ihn in all seiner Lebendigkeit, wie er mit diesem Energierohr die Klippe entlangrennt. Und dann …« Sie fröstelte.
Parsons dachte: Aber es ist schwer, für einen Mann Mitleid zu empfinden, der einen Mord im Sinn hatte. Schließlich war Corith dort unterwegs, weil er töten wollte.
Andererseits hatte Drake unzweifelhaft eine große Anzahl schwer gepanzerter spanischer Soldaten über Bord geworfen und damit gnadenlos ertränkt; vom Gewicht ihrer Rüstungen in die Tiefe gezogen, hatten diese Männer keine Chance gehabt. Drake war für sie nichts als ein Pirat. Und in gewissem Sinne hatten sie recht.
»Wir sind mit unseren Start-Vorbereitungen gut vorangekommen«, sagte Loris, als sie nebeneinander den Korridor entlanggingen. »Wir haben mittlerweile mehr Erfahrung.« Ihre Stimme war voller Verzweiflung. »Willst du es sehen?«
Dieses Mal war ihm erlaubt, in die unterirdischen Stockwerke hinunterzusteigen. Endlich hatte man ihn in alle Geheimnisse des Wolfs-Clans eingeweiht; nichts war ausgespart worden.
»Du wirst es schwerer haben als wir«, sagte Loris, als sie aus dem Aufzug traten. »Hinsichtlich der Veränderung deiner äußeren Erscheinung. Wegen deiner weißen Haut. Bei uns ist es nur eine Frage des Kostüms. Und natürlich müssen wir unsere
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