Schadrach im Feuerofen
besteht die Halluzination lediglich aus Geräuschen oder einzelnen Wörtern, oder der Patient glaubt seine Gedanken zu hören. Andere Formen der Halluzination schließen furchterregende Visionen, seltsame Gerüche und unerklärliche körperliche Empfindungen mit ein.«
Ich denke, das ist auf mich anwendbar. Ist es so, dann akzeptiere ich es bereitwillig. Aber da steht noch mehr. »Selbsttäuschungen und Halluzinationen sind nicht auf die Schizophrenie beschränkt«, heißt es da. »Sie können in einem weiten Bereich organisch bedingter Zustände vorkommen (z. B. bei Gehirnhautentzündungen, Infektionen des Gehirns oder verminderter Blutzufuhr im Gehirn infolge arteriosklerotischer Veränderungen).« Ist das die Erklärung? Wenn Vater Dschingis mir etwas zuflüstert, sollte das nichts weiter sein, als ein Defekt in meinem Gehirn? Sollte am Ende gar eine verstopfte Arterie bewirken, daß Mao mir ins Ohr wispert? Es wäre ratsam, mit Mordechai darüber zu sprechen, wenn er zurückkehrt. Er sorgt sich um meine Arterien. Vielleicht wird er eine weitere Verpflanzung empfehlen. Schließlich habe ich noch immer die meisten meiner ursprünglichen Adern, und die werden alt und brüchig. Was bin ich jetzt, siebenundachtzig? Neunundachtzig, dreiundneunzig? Ja, vielleicht dreiundneunzig. Es ist schwierig, die Zahlen richtig zu behalten. Jedenfalls alt, sehr alt.
Großer Vater Dschingis, bin ich alt.
In Nairobi ist die Luft klar, trocken und kühl, ganz und gar nicht tropisch, obwohl die Stadt beinahe am Äquator liegt, ungefähr auf einer Breite mit dem feuerspeienden Cotopaxi und dem verwüsteten Quito. Auch Quito, hoch im gebirgigen Andenvorland gelegen, war angenehm kühl, aber das ist nur eine Traumerinnerung, eine transtemporale Illusion. Während Schadrach jetzt tatsächlich und wirklich in Nairobi ist. »Wir sind hier hoch über dem Meeresspiegel«, erklärt der Taxifahrer. »Hier wird es nie zu heiß.« Der Mann ist freundlich und gesprächig, ein Kikuyu, wie er seinem Fahrgast unaufgefordert mitteilt. Er trägt eine Sonnenbrille und eine blaue Uniform, die aussieht, als ob er sie von seinem Vater geerbt hätte. Er scheint gesund zu sein, was Schadrach ein wenig überrascht, der halb erwartet hatte, alle Bewohner der Welt außerhalb von Ulan Bator mit Organzersetzung behaftet zu sehen. »Ich spreche sechs Sprachen«, verkündet der Fahrer. »Kikuyu, Massai, Suaheli, Deutsch, Französisch, Englisch. Sie sind Engländer?«
»Amerikaner«, sagt Schadrach, obwohl diese Etikettierung sich in seinen eigenen Ohren merkwürdig ausnimmt. Aber was soll er sonst antworten? Mongole?
»Amerikaner? Ah! New York? Los Angeles? Früher, vor meiner Zeit, kamen viele Amerikaner hierher. Vor dem Großen Krieg, wissen Sie. Dieses Flugzeug, mit dem Sie kamen, war riesengroß und immer voll – all diese Amerikaner! Die kamen, um die Tiere zu sehen, müssen Sie wissen. Draußen im Busch. Mit Kameras. Aber das gibt es nicht mehr. Amerikaner kommen schon lange nicht mehr hierher. Niemand kommt her.« Er lacht. »Andere Zeiten, jetzt. Schwere Zeiten. Aber nicht für die Tiere. Für die Tiere sind es gute Zeiten. Sehen Sie dort, neben der Straße? Eine Hyäne. Direkt am Straßenrand!«
Ja, Schadrach sieht ein struppiges, bedrohlich aussehendes Tier am Straßenrand auf den Keulen sitzen. Es erinnert ihn an einen plumpen, kleinen Bären. Der Taxifahrer erzählt ihm, daß es überall wilde Tiere gebe, wie ganz früher. Strauße wanderten durch Nairobis Hauptstraßen, Löwen und Geparde machten die halb ausgestorbenen Vororte unsicher, Gazellenherden verirrten sich auf das Universitätsgelände am Stadtrand. »Weil es nicht mehr viel Menschen gibt«, sagt er. »Und die meisten von ihnen sind krank. Es wird nicht mehr viel gejagt. Letzte Woche kam ein großer Elefant bis zum ehemaligen Stanley-Hotel und riß Äste von dem alten Dornbaum, der davor steht. Sehr alter Dornbaum, sehr berühmt. Sehr großer Elefant.« Natürlich. Nun, da die Weltbevölkerung auf den Wert des frühen neunzehnten Jahrhunderts zurückgegangen ist, beginnt sich die verwüstete Natur allmählich zu erholen, und die Tiere fangen an, sich wieder auszubreiten. Der Viruskrieg hat sie unbehelligt gelassen, sogar die dem Menschen am nächsten verwandten Primaten: der todbringende Virus war für den Menschen maßgeschneidert.
Auf der Fahrt in die Stadt sieht er weitere Tiere, zwei atemberaubend schöne Zebras, ein paar Warzenschweine und ein Rudel buckliger Antilopen; das
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