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Schadrach im Feuerofen

Schadrach im Feuerofen

Titel: Schadrach im Feuerofen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Straßen und Plätze der Großstädte mit ihren heruntergekommenen Kästen aus streifigem Beton und erblindetem Glas sind austauschbar.
    Nach einer halben Stunde geduldiger Arbeit hat er das System in seinen Grundzügen verstanden. Violett ist Afrika, gelb ist Asien, rot ist Lateinamerika und so fort. Er entdeckt auch, daß Hauptknöpfe vorhanden sind, mittels derer bestimmte Programmfolgen gestaltet werden können. Ferner gibt es Skalenschalter, mit denen alle verfügbaren Ansichten jeder beliebigen, durch Druckknopf gewählten Stadt abgerufen werden können. Er lernt auch, wie man Übertragungen aus bestimmten Städten einschalten kann: die Knöpfe einer jeden Farbgruppe sind analog zur geographischen Lage der Orte angeordnet, und unter Zuhilfenahme einer in die Pultoberfläche eingelassenen beleuchtbaren Weltkarte mit entsprechenden Ortsbezeichnungen kann er feststellen, welche Knöpfe er drücken muß. Und dann läßt er sich Straßenszenen und Ansichten vorführen, um seine Wahl zu treffen.
    Die berühmten Städte der Welt, ja. Die alten Hauptstädte. Natürlich Rom. Er drückt den zugehörigen Knopf und schaltet eine Szenenfolge ein. Das Colosseum erscheint, das Forum, die Spanische Treppe. Ja. Und Jerusalem, gewiß, und Kairo. Er erschrickt, als er einen Straßenbettler sieht, dessen blinde Augen von Fliegen wimmeln. Organzersetzung schreckt ihn nicht, aber er hat keine Mittel gegen diese gräßlichen Trachome, gegen die endemische Bilharziose und die tausend anderen Geißeln südlicher Gegenden. Der Arzt in ihm mag bereit sein, in solche Länder zu gehen und zu helfen, wo er kann, doch dies soll ein Urlaub sein, er reist nicht als Arzt ins Ausland, sondern als Privatperson, und die Herausforderung des Elends schreckt ihn ab. Aber nach einem Blick auf die Kuppeln und schlanken Minarette von Moscheen auf den Hügeln über dem Goldenen Hörn wählt er Istanbul; er entscheidet sich für London, umgeht sein heimatliches Philadelphia und, mit Schaudern, New York; er wählt San Francisco und schließlich Peking. Die große Weltreise. Das große Abenteuer.
    Zum ersten Mal seit längerer Zeit schläft er tief und ruhig, als habe die Aussicht auf die bevorstehende Reise seine Nerven beruhigt. Am frühen Morgen erwacht er, macht seine Freiübungen, packt seinen Koffer. Er beschließt, mit leichtem Gepäck zu reisen.
    Mit Abschiednehmen hält er sich nicht auf. Kurz nach Sonnenaufgang verläßt er das Gebäude, winkt einem Taxi und wird zum Flugplatz gefahren.
     
    2. Juni 2012
    Ich erzählte ihm schließlich doch von den Stimmen. Trotz früherer Beschlüsse. War es ein Fehler? Aber er nahm mich nicht ernst. Die Frage ist, nehme ich mich ernst? Vielleicht sind die Stimmen Symptome einer ernsten geistigen Zerrüttung. Aber waren die Heiligen und Propheten dann auch Verrückte? Die Stimmen kommen und wispern mir zu. In Krisenzeiten sind sie immer gekommen. Am deutlichsten hörte ich sie während des Viruskriegs. Eine Stimme sagte, ich bin Temudschin Dschingis Khan, und du bist mein Sohn, du sollst Dschingis II. sein. Eine Stimme wie Donner, obwohl er nur flüsterte. Und ich bin Mao, sagte eine andere Stimme. Du bist mein Sohn und Vollstrecker, sagte Mao, und du sollst Mao II. sein. Aber wir hatten bereits einen Mao II. einen bösartigen kleinen Feigling, der sein Land mit der größenwahnsinnigen Nachäfferei einer bankrotten Industrialisierungspolitik schädigte, und es gab sogar einen Mao III. der kurz vor Ausbruch des Viruskrieges vorübergehend zur Macht gelangte, also antwortete ich Mao, er sei hinter der Zeit zurück, es sei zu spät für mich, um Mao II. zu sein, ich müsse Mao IV. werden. Er hatte dafür Verständnis und überließ es mir, wie ich mich benennen wollte. So erwählten und ernannten mich meine Stimmen, und in der Folgezeit haben sie mich angeleitet. Ist es ein Zeichen schizoider Verwirrung, körperlose Stimmen zu hören? Es könnte sein. Bin ich dann schizoid? Meinetwegen. Aber ich bin Dschingis Khan II. Mao, und ich herrsche über die Welt.
     

20
    Schadrach erfährt, daß an diesem Tag keine Flüge nach Jerusalem, Istanbul, Rom oder sonstigen Zwischenlandeplätzen zu diesen Zielorten abgehen. Im Laufe des Tages gehen Flüge nach Peking und San Francisco, aber Peking ist Ulan Bator zu nahe, und er braucht jetzt einen totalen Szenenwechsel. San Francisco liegt im Hinblick auf den Rest seiner Reiseroute ungünstig. Aber es gibt noch am Morgen einen Flug nach Nairobi. Irgendwie hatte Schadrach nicht

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