Schadrach im Feuerofen
können.
Er macht noch eine Erfahrung des Offensichtlichen: daß Nairobi nicht nur aus schönen, baumbestandenen Boulevards und klarer, erfrischender Luft besteht, nicht nur aus Kaskaden von Bougainvilleen und Hibiskus. Diese Stadt ist, so schön sie sich in ihrer reduzierten neuen Gestalt als stille, ein wenig verschlafene Provinzhauptstadt ausnehmen mag, nichtsdestoweniger ein Teil der großen Traumastation, und Schadrach braucht von seinem Hotel nicht weit zu gehen, um die Leidenden zu finden. Sie schleppen sich durch die Straßen, manche nur fahlgesichtig und träge in den Bewegungen, neue Opfer der Infektion, andere gekrümmt und unsicher gehend, mit glasig benommenem Blick, und einige, die bereits Blut husten, mit Beulen und Geschwüren bedeckte schwankende Gestalten, die Gesichter glänzend von Schweiß. Diese im Endstadium der Seuche dahinsiechenden Menschen schlurfen allein durch die Straßen, Gott allein weiß, warum; gemieden von Leidensgenossen wie von Gesunden, vorwärtsgetrieben von unbegreiflicher Beharrlichkeit, scheinen sie irgendeinem unerreichbaren Ziel nachzutaumeln, bis der endgültige Zusammenbruch ihrem Leiden ein Ende macht. Zuweilen macht ein Seuchenopfer halt und starrt Schadrach an, als ob ihm anzusehen wäre, daß er immun ist, aber die Blicke haben nichts Vorwurfsvolles oder Neidisches: es sind die ruhigen, gleichmütigen Blicke, mit denen man gelegentlich von weidendem Vieh bedacht wird, undeutbar, aber nicht bedrohlich, ohne eine Andeutung, daß sie einen für das Schlachthaus verantwortlich machen.
Anfangs kann Schadrach diesem Blick nicht standhalten. Vor langer Zeit hat man ihn gelehrt, ein Arzt müsse imstande sein, einen Patienten anzusehen, ohne seiner eigenen guten Gesundheit wegen Gewissensbisse zu verspüren, aber dies ist etwas anderes. Sie sind nicht seine Patienten, und er ist nur gesund, weil seine politischen Verbindungen ihm Schutz gewährleisten, der ihnen verwehrt bleibt. Die Organzersetzung interessiert ihn – sie ist das große medizinische Phänomen des Zeitalters, der Schwarze Tod der Neuzeit, die schrecklichste Seuche in der Menschheitsgeschichte, und er studiert ihre Auswirkungen, wo immer er sie antrifft –, aber weder sein Interesse noch seine sachliche medizinische Betrachtungsweise gibt ihm die Kraft, diesen Leuten in die Augen zu sehen. Er wirft ihnen nur schnelle Seitenblicke zu, bis er begreift, daß seine Schuldgefühle irrelevant sind. Es ist den Kranken gleich, ob er sie ansieht oder nicht. Sie sind längst über den Punkt hinaus, wo etwas sie in Wallung bringen kann. Sie erwarten den Tod, ob in ihren Wohnungen oder hier auf der Straße; ihre Leiber sind von der Krankheit wie von Flammen zerfressen, ihr Geist ist umnebelt; was macht es ihnen aus, ob irgendein Fremder stehen bleibt und starrt? Sie sehen ihn an, er sieht sie an. Unsichtbare Barrieren schirmen ihn gegen sie ab.
Dann werden sie plötzlich durchbrochen. Schadrach wendet sich von der immerwährenden Prozession der Verdammten ab, um die Auslage eines staatlichen Kunstgewerbeladens zu betrachten – grotesk anmutende Holzschnitzereien, mit Zebrafellen bespannte Trommeln, präparierte Elefantenfüße als Schirmständer und Papierkörbe, Speere und Schilde der Massai, alle möglichen Gegenstände der Volkskunst und des Folklorekitsches, in einer anderen Zeit massenproduziert für Touristen, die nicht mehr kommen –, und jemand stößt ihn von der Seite an. Er fährt herum, sofort auf der Hut und abwehrbereit. Aber die einzige Person in seiner Nähe ist ein kleiner alter Mann mit welker, kalkig aussehender Haut, in Lumpen gehüllt, weißhaarig und abgezehrt, der wie betrunken schwankt und dazu rasselnde, röchelnde Geräusche von sich gibt.
Ein Kranker im Endstadium. Die Augen fleckig und trüb, Arme und Beine mit Beulen und aufgebrochenen Geschwüren bedeckt. Die Krankheit frißt sich langsam von innen nach außen durch das Körpergewebe, welches in schwärende Zersetzung übergeht; im allgemeinen wird innerhalb relativ kurzer Zeit ein lebenswichtiges Organ befallen, worauf der Tod eintritt, aber es gibt auch Fälle mehrjährigen Siechtums. Achtzehnjahre sind vergangen, seit der Viruskrieg die Seuche über die Menschheit brachte; Schadrach hat gelesen, daß Fälle bekanntgeworden sind, in denen zwischen Infektion und Tod zehn bis zwölf Jahre verstrichen sind. Dieser Mann sieht wie einer von diesen Fällen aus, aber er kann jetzt nicht mehr lange zu warten haben. Er ist nichts als eine
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