Schadrach im Feuerofen
Masse von schwärenden Löchern, zusammengehalten von schwächlichen Strängen lebenden Gewebes.
Er scheint Schadrachs Aufmerksamkeit auf sich lenken zu wollen, ist aber unfähig, vor ihm stehenzubleiben. Wie ein schwer Betrunkener schwankt er mit schlaff hängenden Armen vor und zurück, taumelt seitwärts davon, wendet schwerfällig und kommt wieder. Endlich gelingt es ihm, Schadrach am Arm zu fassen und sich an ihm festzuhalten, immer noch schwankend wie ein Schilfrohr im Wind.
Schadrach macht sich nicht los. Wenn er dem Bedauernswerten schon nicht helfen kann, dann will er ihm wenigstens einen Halt geben.
In einem krächzenden, schrillen Flüsterton sagt der alte Mann etwas, was ihm von größter Wichtigkeit zu sein scheint.
»Es tut mir leid«, murmelt Schadrach, trotz besten Willens unangenehm berührt. »Ich kann Sie nicht verstehen.«
Der alte Mann beugt sich näher, reckt das ausgemergelte Gesicht zu Schadrach empor und wiederholt die Worte mit noch größerer Dringlichkeit.
»Ich spreche nicht Suaheli«, sagt Schadrach bekümmert. »Ist das Suaheli? Ich verstehe nicht.«
Der Alte sucht nach einem Wort; die runzligen Lippen bewegen sich, Konzentration spannt das Gesicht. Ein süßlicher, trockener Geruch geht von dem Mann aus, wie der Geruch von welken Blumen; der Geruch ist weniger unangenehm, als Schadrach erwartet hatte. Ein brandig aussehendes Geschwür in der rechten Wange scheint diese bereits durchfressen zu haben; wahrscheinlich könnte er die Zungenspitze durchstecken.
»Tot«, sagt der alte Mann schließlich in Englisch, und er bringt das Wort wie ein schweres Gewicht hervor, das er Schadrach vor die Füße wirft.
»Tot?«
»Tot. Du mich – machen tot…«
Schadrach starrt den alten Mann entsetzt an. Will er ihm die Schuld an seiner Krankheit geben? Oder bittet er um Euthanasie?
»Du – mich machen tot!« Dann mehr Suaheli, gefolgt von einem angestrengten Husten. Plötzlich kommen dem Alten die Tränen und strömen unvermutet reichlich in tiefen Kanälen zu beiden Seiten der Nase herab. Die Hand an Schadrachs Unterarm löst ihren Griff; der alte Mann steht schwankend, macht eine Anzahl heiser schnalzender Geräusche und wendet sich taumelnd zum Gehen. Schon nach einem Schritt strauchelt er und fällt zu Boden. Schadrach springt geistesgegenwärtig hinzu, kann ihn auffangen und läßt ihn behutsam auf das Pflaster nieder. Der Alte kann nicht mehr als vierzig Kilo wiegen, vermutet er, und hat eine halluzinatorische Vision von einem Schädel und losen Knochen in den zerlumpten Kleidern.
Was nun? Soll er die Behörden verständigen? Wer ist zuständig? Schadrach hält nach Milizionären Ausschau, aber die ohnehin wenig belebte Straße scheint auf einmal wie ausgestorben. Weiter unten spielen ein paar Kinder, da und dort sitzen Gestalten auf den Stufen vor Hauseingängen, aber sie achten nicht auf ihn, und im näheren Umkreis ist niemand. Schadrach fühlt sich für den Sterbenden verantwortlich. Er kann ihn nicht einfach liegen lassen. Auf der Suche nach einem Telefon betritt er den Kunsthandwerkladen.
Der Laden wird von einem dicken alten Inder geleitet, vielleicht dem früheren Besitzer, einem Mann mit großen, melancholischen Augen und dichtem Silberhaar. Anscheinend hat er das Drama beobachtet, denn er kommt Schadrach schon entgegen, schlägt die Hände zusammen und stellt einen Ausdruck tiefsten Bedauerns zur Schau. »Wie unangenehm!« erklärt er. »Einen Besucher unserer Stadt so zu belästigen! Sie sind doch ein Besucher, nicht wahr? Diese Leute haben keinen Anstand, kein Gefühl für…«
»Es war keine Belästigung«, sagt Schadrach ruhig. »Der Mann liegt im Sterben. Er hat keine Zeit, über Anstand nachzudenken.«
»Trotzdem. Einen Fremden zu behelligen, einen Besucher unserer…«
Schadrach schüttelt den Kopf. »Das hat nichts zu sagen. Was immer er von mir wollte, ich konnte es ihm nicht geben, und nun geht es mit ihm zu Ende. Er kann nicht mehr aufstehen. Ich wünschte, ich hätte ihm helfen können. Ich bin nämlich Arzt«, vertraut er dem Mann mit der Hoffnung an, daß die Enthüllung die richtige Wirkung ausüben wird.
Sie tut es. »Ah!« ruft der andere. »Dann verstehen Sie sich auf diese Dinge.« Die Empfindlichkeiten von Ärzten sind nicht wie jene gewöhnlicher Menschen. Der Leiter des Ladens empfindet es nicht länger als peinlich, daß einer seiner schäbigen Landsleute die Geschmacklosigkeit zeigte, seinen Zustand einem Fremden aufzudrängen.
»Was soll
Weitere Kostenlose Bücher