Schadrach im Feuerofen
mit dem Mann geschehen?« fragt Schadrach.
»Die Miliz wird ihn abholen und in ein Siechenheim bringen.«
»Ich dachte, wir sollten jemanden anrufen.«
Der Inder zuckt die Achseln. »Die Miliz wird vorbeikommen. Im Krankenhaus anzurufen, hätte keinen Sinn, weil solche Opfer dort nicht aufgenommen werden.« Er nickt zur Tür hinaus. »Der kann ruhig noch eine Weile liegen bleiben. Die Krankheit ist ja nicht ansteckend, oder? Das heißt, wer noch gesund ist, hat keine Ansteckung zu befürchten, solange er einen solchen Kranken und dessen Kleider nicht berührt; das ist jedenfalls, was ich gehört habe. Stimmt es nicht?«
»Doch, es stimmt«, sagt Schadrach. Er blickt unbehaglich zu dem Alten hinaus, der wie ein Bündel schmutziger Kleider auf dem Gehsteig liegt. »Vielleicht sollten wir trotzdem anrufen.«
»Die Milizionäre werden bald kommen«, sagt der Inder wieder, und damit scheint der Fall für ihn erledigt zu sein. »Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten? Die Gelegenheit, einen Ausländer zu empfangen, bietet sich nur selten. Ich bin Bhischma Das. Sie sind Amerikaner?«
»Ich bin dort geboren, ja. Ich lebe seit langem im Ausland.«
»Ich verstehe.«
Das eilt in den kleinen rückwärtigen Raum hinter der Kasse, wo er eine Kochplatte und einige Teebeutel hat. Seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Sterbenden auf der Straße bekümmert Schadrach weiterhin, aber Das scheint kein unintelligenter oder gefühlloser Mensch zu sein. Vielleicht ist es hier in der Außenwelt Brauch, diesen Erinnerungen an die universale Sterblichkeit so wenig Aufmerksamkeit wie möglich zu schenken.
Wie dem auch sein mag, die Prophezeiung des Inders bewahrheitet sich: tatsächlich treffen schon nach wenigen Minuten drei dunkelhäutige Milizionäre mit einem klapprigen Transportwagen ein. Zwei von ihnen legen den alten Mann auf eine Bahre und schieben ihn durch die Hecktüren in das Fahrzeug; der Dritte späht durch das Ladenfenster, starrt Schadrach lange und aufmerksam an und nickt in einer unergründlichen, seltsam beunruhigenden Art und Weise, dann wendet er sich um, klettert zu seinem Kameraden ins Fahrerhaus, und der Wagen rollt davon.
»Früher oder später werden wir alle an der Organzersetzung sterben, nicht wahr?« sagt Bhischma Das. »Wir und unsere Kinder. Es heißt, alle seien infiziert. Ist das wahr?«
»Wahr, ja«, antwortet Schadrach. Auch er trägt die Mörder-DNS in seinen Genen. Sogar der Vorsitzende. »Natürlich gibt es die Immunisierung…«
»Die Immunisierung. Ja. Sagen Sie, Doktor, glauben Sie, daß es die wirklich gibt?«
Schadrach blickt ihn erstaunt an. »Sie zweifeln daran?«
»Ich habe keine genaue Kenntnis von diesen Dingen. Der Vorsitzende sagt, es gebe ein Gegenmittel, das der Bevölkerung bald zugänglich gemacht werde, aber Näheres weiß man nicht, und die Menschen sterben weiter. Ah, der Tee ist fertig! Sagen Sie, gibt es wirklich ein Gegenmittel? Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nicht, was ich glauben soll.«
»Es gibt eins«, sagt Schadrach und nimmt dankbar eine Tasse Tee an. »Ja, das ist wirklich wahr. Und eines Tages wird es an die gesamte Bevölkerung ausgegeben werden.«
»Das wissen Sie ganz sicher?«
»Ich weiß es, ja.«
»Nun, Sie sind Arzt; Sie müssen es wissen.«
»Ja.«
Bhischma Das nickt vor sich hin und schlürft seinen Tee. Nach einer langen Pause sagt er: »Natürlich werden viele von uns an der inneren Fäulnis sterben, ehe das Gegenmittel ausgegeben wird. Nicht nur solche Leute, die wie ich die Kriegszeit überlebt haben, sondern auch unsere Kinder. Wie ist das möglich? Ich habe es nie verstanden. Meine Gesundheit ist zufriedenstellend, meine Kinder sind gesund und kräftig – und doch tragen wir die Seuche in uns? Sie schläft in unseren Körpern und wartet auf den passenden Augenblick? Ist das wirklich so – daß sie in jedem schläft?«
»In jedem«, sagt Schadrach. Wie soll er es erklären? Wenn er von den strukturellen Ähnlichkeiten zwischen dem Organzersetzung verursachenden Virus und dem normalen genetischen Material des Menschen spricht, wenn er beschreibt, wie der während des Krieges als Massenvernichtungsmittel eingesetzte Virus – das Ergebnis langwieriger, aufwendiger wissenschaftlicher Forschung – die Fähigkeit besitzt, sich in die Nukleinsäure einzulagern, in das Keimplasma selbst, und so derart eng mit dem menschlichen Erbgut verschmolzen wird, daß er mit normalen zellularen Genen von Generation zu Generation weitergegeben wird, ein
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