Schadrach im Feuerofen
Gesellschaft nicht. Nein, es kam darauf an, die Essenz des lebendigen Vorsitzenden einzufangen, zu verschlüsseln und zu einem Programm zu verarbeiten, das weiterwachsen und selbständig reagieren kann. Was den Erfolg des Projekts betrifft, so ist Schadrach ziemlich skeptisch. Er fragt Katja Lindman, wie er es alle paar Wochen zu tun pflegt, welche Fortschritte ihre Abteilung bei der Umsetzung von Gedankenprozessen des Vorsitzenden in verschlüsselte Dateneinheiten erzielt hat, was erheblich schwieriger als die Ausarbeitung von Digitalprogrammen für Mienenspiel und Eigentümlichkeiten der Haltung ist. Sie empfindet die Frage als Drohung und Herausforderung, und in ihren Augen blitzt ein vertrautes Feuer auf; aber dann sagt sie nur: »Wir beschäftigen uns weiterhin mit diesem Problem. Unsere besten Leute arbeiten ständig daran.«
Schadrach bedankt sich und schaltet auf Irina Sarafrazis Kanal. Die Leiterin des Projekts Phönix ist eine junge persische Gerontologin, eine schmächtige, beinah zerbrechlich aussehende Person mit großen dunklen Augen, einem festen, ernsten Mund und streng zurückgekämmten schwarzen Haar. Ihre Gruppe sucht nach einer Technik zur körperlichen Erneuerung, die die Verjüngung des lebenden Zellgewebes des Vorsitzenden ermöglichen soll, damit er in seiner eigenen Haut wiedergeboren werden kann, wenn er nicht länger die Kraft und die Widerstandsfähigkeit für weitere Organverpflanzungen aufbringt. Das Haupthindernis ist in diesem Fall die mangelnde Bereitschaft des Gehirns, seine täglich zu Hunderttausenden absterbenden Zellen zu regenerieren. Der Alterungsprozeß der übrigen Organe und Körpergewebe ist aufzuhalten, wenn die Neuprogrammierung der Nukleinsäure gelingt, eine schwierige, doch immerhin lösbar scheinende Aufgabe, aber niemand weiß einen Weg, wie der ständige Zerfall und Tod der Gehirnzellen aufgehalten, geschweige denn rückgängig gemacht werden könnte. Im Laufe von neun Jahrzehnten hat das geschätzte Hirngewicht des Vorsitzenden bereits um zehn Prozent abgenommen, mit einem entsprechenden Verlust mnemonischer Funktionen und neuraler Reaktionszeit; nichtsdestoweniger ist er weit davon entfernt, senil zu sein. Aber welch schrecklicher Niedergang in die Idiotie könnte ihn ereilen, wenn er weitere fünfzig Jahre mit dem vorhandenen, nicht erneuerungsfähigen Gehirn auskommen müßte? Hunderte von glücklosen Primaten mußten Irina Sarafrazis Forschungsprojekt ihren Schädelinhalt opfern, und ihre Gehirne leben in Glasbehältern mit Nährlösung auf den Laboratoriumsregalen weiter, wach und reaktionsfähig, während die Forscher nach Möglichkeiten suchen, die Neuronen zu neuem Wachstum anzuregen. Fortschritte sind nicht erzielt worden und auch nicht in Sicht.
An diesem Morgen wirkt die Projektleiterin entmutigt. Ihre glitzernden Achämenidenaugen blicken stumpf und angestrengt. Das entkörperte Gehirn von Pan, einem Schimpansen, hat plötzlich eine fatale Zustandsverschlechterung erlitten, gerade als es schien, daß neues Zellwachstum einsetzen würde. »Es ist nicht mehr zu retten, und wir sind in Begriff, die Autopsie einzuleiten«, sagt Irina Sarafrazi trübe. »Pans Tod kann bedeuten, daß unser ganzes Programm zur Stimulierung der Gehirnzellen ein Fehler ist. Ich denke daran, das Hauptgewicht unserer Forschungsarbeit von der Gehirnerneuerung auf die Aktivierung ungenutzten Potentials zu verlagern. Was meinen Sie?«
Schadrach zuckt die Achseln. Natürlich weiß er, daß das menschliche Gehirn enorme ungenutzte Areale besitzt, Milliarden von Zellen, deren einzige erkennbare Funktion die einer Reserve für den Notfall ist; er weiß auch, was zur Rehabilitierung der Opfer von Schlaganfällen und anderen Gehirnschäden durch Umleitung der neuralen Kanäle in die Reservegebiete des Gehirns erreicht worden ist. Aber die Nutzbarmachung bestehenden Gehirngewebes verzögert nur die drohende Gefahr seniler Degeneration, ohne sie zu bannen. Solange täglich Gehirnzellen absterben, wird der Vorsitzende früher oder später in senilen Schwachsinn verfallen, selbst in einem verjüngten Körper.
»Ich glaube, das wäre nur eine vorübergehend wirksame Maßnahme«, antwortet Schadrach. »Ohne eine echte Regeneration des Gehirns scheint mir das Risiko zu hoch. Ein altes Gehirn in einem verjüngten Körper – ich fürchte, das geht nicht gut. Vielleicht sollten wir morgen noch einmal darüber sprechen, wenn der Autopsiebericht über den Schimpansen vorliegt.«
Unfähig, den
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