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Schadrach im Feuerofen

Schadrach im Feuerofen

Titel: Schadrach im Feuerofen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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gibt hier mehr Uniformierte, als er jemals an irgendeinem Ort gesehen hat, mehr sogar als in der Hauptstadt. Es scheint, als sei jeder neunte Bewohner der Stadt Mitglied der Miliz. Vielleicht ist es nur eine Sinnestäuschung seines von Verfolgungswahn bedrängten Bewußtseins, oder vielleicht erfordert die ungewöhnliche Vitalität dieser Stadt ein entsprechend ungewöhnliches Maß an polizeilicher Aufsicht; jedenfalls sind die graublauen Uniformen überall. Meistens sieht man sie in Paaren, nicht selten auch in Gruppen von drei, vier oder fünf Mann. Die meisten haben diesen mechanisch-kalten, insektenhaften Ausdruck, der vermutlich ein Ergebnis polizeilicher Machtbefugnisse und der Gewalt über andere ist. Und alle beobachten ihn. Es kann nicht bloßer Verfolgungswahn sein. Oder? Diese stahlgrauen wachsamen Augen, hart, dumm, zielbewußt, die ihn von allen Seiten mustern, wenn er die Stadt durchwandert? Warum starren sie ihn so aufmerksam an? Was wollen sie wissen?
    Bald werden sie mich verhaften, sagt er sich.
    Er zweifelt nicht daran, daß er seit seiner Abreise unter Beobachtung steht. Er ist überzeugt, daß Avogadro über jede seiner Bewegungen informiert ist und dem Vorsitzenden täglich Situationsberichte vorlegt; und – ist es seine eigene wachsende Spannung, die den Anschein erweckt, oder ist es die zunehmende Ungeduld des alten Mannes? – die Intensität der Überwachung scheint zugenommen zu haben, von Nairobi bis Jerusalem, von Jerusalem bis Istanbul, von Istanbul bis Rom, zuerst ein zufällig vorbeischlendernder Milizionär, der ihm einen flüchtigen Blick zuwirft, dann unverhülltere Aufmerksamkeit, dann Doppelstreifen, die ihm folgen, die in seiner Nähe stehen bleiben, die ihn anstarren, beraten, seine Bewegungen aufzeichnen, bis sie – vielleicht in San Francisco, vielleicht erst in Peking – Anweisung aus der Hauptstadt erhalten und ihn festnehmen: Na also, Doktor Mordechai, kommen Sie freiwillig mit, und es geschieht Ihnen nichts…
    Und dann, als er an der Ecke Broadway und Grant steht, eben im Begriff, sich nach rechts zu wenden und in das menschenwimmelnde Chinesenviertel hinunterzuschlendern, beschäftigt mit tausend Spekulationen über die drei Milizionäre, die gegenüber am orientalischen Lebensmittelladen beisammen stehen, ruft jemand von der anderen Seite des Broadway seinen Namen:
    »Mordechai? He, Schadrach Mordechai!«
    Beim Klang seines Namens erstarrt Schadrach, aufgespießt inmitten seiner Verfolgungsfantasie, wissend, daß das Spiel aus ist, daß der gefürchtete Augenblick gekommen ist.
    Aber der Mann, der auf ihn zukommt, der sich mit schleppendem Schritt leicht schwankend durch den Verkehr nähert, ist kein Milizionär. Es ist ein stämmiger Mann mit schütterem Haar, müdem, gefurchtem Gesicht und ungepflegtem graumeliertem Bart, der in einem dicken Flanellhemd und einem ausgebeulten grünen Overall steckt. Bei Schadrach angelangt, legt er ihm die Hand auf den Arm, als wolle er damit nicht nur die Aufmerksamkeit des anderen auf sich lenken, sondern zugleich auch Halt suchen. Dabei schiebt er sein Gesicht in einer unverschämten Anmaßung von Intimität so nahe an Schadrachs heran, daß dieser vor Überraschung jede Abwehr vergißt. Die Augen des Mannes sind wäßrig und geschwollen: eines der Symptome von Organzersetzung. Aber er kann noch lächeln. »Doktor«, sagt er. Seine Stimme ist verquollen und einschmeichelnd. »Hallo, Doktor, wie geht’s?«
    Ein Betrunkener. Wahrscheinlich nicht gefährlich, obwohl er in Schadrach ein unbestimmtes Gefühl von Bedrohung erzeugt.
    »Ich wußte nicht, daß ich hier so berühmt bin.«
    »Berühmt, was heißt berühmt? Ja, Sie sind eine verdammte Berühmtheit; wenigstens für mich. Ich sah Sie schon von weitem. Habe Sie gleich wiedererkannt. Nicht, daß Sie sich sehr verändert hätten.« Der Mann ist offensichtlich betrunken. Er hat diese schwerfällige, anbiedernde Freundlichkeit; inzwischen stützt er sich so schwer auf Schadrachs Arm, daß er praktisch daran hängt. »Sie erkennen mich wohl nicht, wie?«
    »Sollte ich?«
    »Kommt darauf an. Sie kannten mich mal recht gut.«
    Schadrach sucht in dem fleischigen, verwüsteten Gesicht. Es kommt ihm irgendwie bekannt vor, aber er kann es nicht mit einem Namen verbinden. »Harvard«, mutmaßt er. »Es muß Harvard gewesen sein. Richtig?«
    »Zwei Punkte. Wir kommen der Sache schon näher.«
    »Medizinische Fakultät?«
    »Wie wär’s mit der Collegestufe?«
    »Das ist schwieriger. Das

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