Schadrach im Feuerofen
immer in Rom bleiben. Ein Jammer, denkt er, daß der alte Mann nur scherzte, als er ihm die Papstwürde antrug. Aber nach einer Woche beschließt Schadrach, seine Reise fortzusetzen. Es ist hier zu angenehm, zu bequem; außerdem bemerkt er eines Abends, als er vor seinem Lieblingscafe sitzt, die Wärme genießt und das junge Volk vorbeiflanieren läßt, daß vor dem benachbarten Cafe zwei Milizionäre an einem Tisch sitzen, die weder trinken noch sprechen, sondern ihre ganze Aufmerksamkeit ihm zuwenden. Zieht sich das Netz um ihn zu? Werden sie ihn morgen oder am Tag danach ansprechen und ihm mitteilen, er müsse zu seinem Herrn nach Ulan Bator zurückkehren? Er bucht einen Flug nach London, storniert ihn im letzten Moment und verschafft sich mit Hilfe seines Regierungsausweises einen Platz in einer Maschine, die über den Pol nach Kalifornien fliegt.
Und auf einmal ist er in San Francisco. Eine Spielzeugstadt, weiß und kostbar, die sich auf beachtlichen Hügeln erhebt, umgürtet von einer im Sonnenlicht funkelnden Bucht. Er ist nie zuvor hier gewesen. Komisch, wie er erwartet, daß berühmte Städte gigantisch sein müßten. Diese ist, ähnlich wie Jerusalem, überraschend klein. Würde man sie in Rom niedersetzen oder im weit über Meeresarme und Hügel ausgreifenden Istanbul, so würde sie völlig verschwinden. Eine weitere Überraschung ist das kühle Klima. Kalifornien war für ihn immer mit Vorstellungen von Schwimmbecken und Palmen und immerwährendem Sonnenschein verbunden, aber dieses Kalifornien muß irgendwo anders sein, wahrscheinlich unten bei Los Angeles; San Francisco im Juni zeigt ihm eine seltsame Vorfrühlingsstimmung, mit scharfem, schneidendem Wind und klammen grauen Nebelfeldern, die sich von der See heranschieben und die Stadt einhüllen. Selbst wenn die Sonne den Nebel am Nachmittag auflöst und die Stadt im brillanten Licht unter einem tiefblauen, wolkenlosen Himmel glitzert, bleibt die Kälte des Seewinds in der Luft, und Schadrach zieht in seinem unzureichenden Sommeranzug fröstelnd die Schultern ein.
Hier gibt es keine alten Paläste zu sehen, keine frei herumlaufenden Gazellen und Strauße, keine mittelalterlichen Stadtmauern oder Barockkirchen. Aber es gibt elegante Straßen mit viktorianischen Häusern, reich geschmückt mit Stuckarbeiten, Schnörkeln und Erkern, und die meisten dieser Gebäude sind wohlerhalten, Veteranen, die Erdbeben, Brände, Aufstände, die biochemische Kriegführung und sogar den Zusammenbruch der Vereinigten Staaten überdauert haben. Überall gibt es Büsche und Bäume, viele davon in voller Blüte; diese Stadt, so windig und kühl sie sich zeigt, ist beinahe so blütenreich wie Nairobi, und Schadrach genießt den Anblick von Bäumen, die in gewaltigen Massen roter Blüten flammen, von mächtigen Baumfarnen und windzerzausten Zypressen, von Hängen, die mit dunklen, duftenden Eukalyptushainen bestanden sind. An einem Tag geht er von der Bucht durch die ganze Stadt zum Ozean, tritt aus einem üppigen, traumhaften Park an die Brüstung einer Promenade und steht am Rand des Pazifik, starrt über ihn hinaus in die Richtung, wo die Mongolei liegen muß. Irgendwo dort erwacht Dschingis Khan II. Mao jetzt aus dem leichten Schlaf des Alters und beginnt mit seinen morgendlichen Übungen. Schadrach fragt sich, wie es um die Nierenfunktionen des alten Mannes bestellt sein mag, seinen Blutdruck, den Kalziumphosphat-Spiegel und die innere Sekretion. Er gesteht sich ein, daß er die Signale aus dem Körper des Vorsitzenden zu vermissen beginnt. Er vermißt die tägliche Herausforderung, die darin besteht, den unglaublich lebenskräftigen, aber zunehmend anfälligen und verwundbaren Körper des Vorsitzenden funktionsfähig zu erhalten. Möglich, daß er sogar den alten Mann selbst vermißt. Wie seltsam, dunkel und geheimnisvoll sind die menschlichen Empfindungen! Ach, die hippokratischen Zwänge!
Wie geht es dem Vorsitzenden? Er lebt und ist wohlauf, nach der Zeitung zu urteilen, die Schadrach kauft. Es ist die erste, in die er seit Antritt seiner Reise einen Blick geworfen hat, und die Seiten sind übersät mit Aufnahmen von Mangus Staatsbegräbnis, das vergangene Woche mit allem Pomp und dem Zeremoniell von Massenaufmärschen und Spektakeln aller Art begangen wurde. Da ist Dschingis Khan II. Mao selbst, wie er auf der Tribüne steht und einen Vorbeimarsch abnimmt. Da ist er wieder, im Trauerzug hinter der Lafette mit dem Sarg des Toten. Und hier winkt er den Zigtausenden
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