Schadrach im Feuerofen
Fenster schleppen und hinaus! Ich bin vor Zorn und Kummer außer mir. Was werde ich jetzt tun? Meine Pläne für Mangu sind zunichte gemacht. Mordechai erzählt mir, das Projekt Phönix sei wegen unüberwindlicher biologischer Schwierigkeiten blockiert, möglicherweise für immer. Projekt Talos kommt langsam voran, aber Talos wollte mir noch nie recht gefallen. Damit bleibt mir noch Avatara, und ohne Mangu ist es…
Ah. Ich werde Mordechai verwenden. Ein kräftiger, junger und gesunder Körper. Ich werde glücklich darin sein. Und schwarz. Eine Neuheit. Ich sollte alle Erscheinungsformen der Menschheit ausprobieren. Wenn Mordechais Körper alt geworden ist, sollte ich vielleicht in einen weißen umziehen. Vielleicht sogar in eine Frau. Oder in einen Riesen, einen Zwerg – das sind alles Möglichkeiten…
Mordechai ist ein guter Arzt und ein angenehmer Gesellschafter gewesen, ein Mann, der weiß, wann er den Mund zu halten hat. Aber es gibt andere Ärzte, und die Gesellschaft von Mitmenschen wird mir immer unwichtiger. Sollte ich ein Schuldbewußtsein entwickeln, daß ich ihn auslösche? Mag sein, daß ich eine Weile unter Gewissensbissen leiden werde, ein paar Tage vielleicht. Aber ich muß über solche Empfindungen hinauswachsen.
16. Mai 2012
Weitere Überlegungen zu der Wahl Mordechais als Ersatz für Mangu. Offenbar halten sich im Unterbewußtsein noch Reste von Schuldgefühlen. Aber warum? Ich denke ja nicht daran, ihn zu ermorden, sondern ich will ihn ehren, indem ich seinen Körper zum Träger enormer Machtvollkommenheit mache. Natürlich mag er einwenden, daß meine Pläne für ihn wenn auch nicht auf direkten Mord, so doch bestenfalls auf eine Form von Sklaverei hinauslaufen, und seinesgleichen habe genug Sklaverei ertragen. Aber nein: Mordechai ist mit seinen unglücklichen Vorfahren nicht identisch, und alle alten Schulden sind vom Viruskrieg beglichen worden, der Sklaven und Herren ohne Unterschied dahinraffte, vor Generälen sowenig haltmachte wie vor Säuglingen und die Überlebenden in einen geschichtslosen Zustand ohne Vergangenheit entließ, in eine neue Welt, worin die Geschichte jeden Tag neu geboren wird. Was haben uns Heutigen die Verbrechen der Sklaventreiber zu sagen? Die alte Gesellschaft, deren Ausbeutungscharakter unter anderem die Sklaverei als einfachste und lohnendste Aneignungsmethode hervorbrachte, besteht nicht mehr. Und ich habe meinen Teil dazu beigetragen. Ich habe es nicht nötig, mich mit der Schuld anderer zu beladen. Ich bin kein Deutscher; wenn es notwendig wird, kann ich Juden in den Verbrennungsofen schicken, ohne mich für vergangene Sünden zu entschuldigen. Ich bin kein Weißer; darum macht es mir nichts aus, einen Schwarzen zu versklaven. Die Vergangenheit ist tot. Die Geschichte besteht jetzt aus leeren Seiten. Außerdem – falls historische Imperative noch fortbestehen sollten – bin ich Mongole: meine Vorfahren unterwarfen die halbe Welt. Soll ich mich in Kleinlichkeiten verlieren? Ich werde seinen Körper haben.
27. Mai 2012
Der Sicherheitsdienst meldet mir, die Überprüfung der Tonaufzeichnungen dieser Woche habe ergeben, daß Katja Lindman Mordechai verraten hat, er sei der nächste Avatara-Spender. Diese Frauenzimmer reden zuviel. Es war nicht meine Absicht, ihn die Wahrheit darüber erfahren zu lassen, aber nun ist es geschehen. Ich werde ihn in Zukunft genauer beobachten müssen. Das Leiden der Menschheit hat mich die Regierungskunst gelehrt. Ich habe den Mitmenschen mein Leben und die Arbeitskraft von mehr als fünfundsechzig Jahren gewidmet. Ich habe mir kaum etwas gegönnt. Ich war kein Caligula, kein Nero. Das alles gibt mir ein Recht auf ein wenig Kurzweil und Erheiterung: als Ausgleich für die schwere Last der Verantwortung, die ich zu tragen habe. So bereitet es mir ein gewisses – und eingestandenermaßen unmoralisches – Vergnügen, zu beobachten, welche Auswirkungen die neue Erkenntnis auf Doktor Mordechais Verhalten zeitigt. Das Seltsame ist, daß man ihm noch nichts anmerkt. Er gibt sich völlig ruhig. Wahrscheinlich glaubt er noch nicht daran. Will nicht daran glauben. Vermutlich hält er sich für unentbehrlich. Warten wir ab. Er wird noch darauf kommen. Früher oder später wird es ihn wie ein Keulenschlag treffen.
Schadrach findet das Spiel plötzlich nicht mehr amüsant. Diese Experimente in psychologischer Perspektive sind um so weniger spaßig, je mehr die Distanz zwischen ihm selbst und seiner erfundenen Geschichte
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