Schadrach im Feuerofen
hättest. Als ob du fürchtetest, sein Unglück könne ansteckend sein.«
»Warum hältst du mir eine Moralpredigt, Schadrach?«
»Das fragst du noch? Weil es mir wehgetan hat«, sagt er. »Weil jemand, den ich liebte, mich verriet. Weil ich es nicht über mich bringe, dir meinerseits im Innersten wehzutun, wie du es verdient hast.«
»Was hätte ich tun sollen.« fragt Nicki.
»Das rechte.«
»Und was wäre das gewesen?«
»Du hättest dich dem alten Mann widersetzen können. Du hättest ihm sagen können, daß du nicht bereit seist, an der Auslöschung deines Liebhabers mitzuwirken. Du hättest ihn wissen lassen können, daß eine Beziehung zwischen uns bestand, daß du dich außerstande sähest… In Gottes Namen, Nicki, es sollte wirklich nicht nötig sein, daß ich dir alles das erkläre!«
»Ich bin sicher, der Vorsitzende weiß über die Beziehung zwischen uns recht gut Bescheid.«
»Und wählte mich aus, um deine Loyalität zu prüfen? Um herauszufinden, wie du, vor die Wahl zwischen deinen Liebhaber und dein Laboratorium gestellt, reagieren würdest? Du meinst, es sei eins von seinen kleinen psychologischen Spielchen gewesen?«
Sie zuckt die Achseln. »Das ist durchaus vorstellbar.«
»Vielleicht hast du dann die falsche Wahl getroffen. Vielleicht wollte er statt deiner Loyalität deine Menschlichkeit auf die Probe stellen. Und nun, da er sieht, wie charakterlos, kaltherzig und gefühllos du bist, mag er entscheiden, daß er die Gefahr nicht auf sich nehmen kann, eine Person wie dich als Leiterin…«
»Hör auf, Schadrach.« Ihre Abwehr zerbröckelt unter seinem andauernden Angriff, seiner ruhigen, leisen Erbarmungslosigkeit. Ihre Lippen beben, sie kämpft sichtlich mit den Tränen. »Bitte«, sagt sie. »Hör auf damit. Du bekommst, was du willst.«
»Du findest, ich sei unfreundlich? Du denkst, ich hätte kein Recht, zornig mit dir zu sein?«
»Ich hätte nichts tun können.«
»Gar nichts?«
»Gar nichts.«
»Ich glaube doch. Zum Beispiel hättest du deinen Rücktritt androhen können.«
»Dann hätte er mich zurücktreten lassen. Ich bin nicht unentbehrlich. Mein Nachfolger hätte das Projekt weitergeführt.«
»Nun, selbst wenn es nichts geholfen hätte, würdest du dir jetzt nicht anständiger und sauberer vorkommen, wenn du irgendeine Art von Widerstand geleistet hättest?«
»Vielleicht«, sagt sie, »aber an der Sache selbst hätte es nichts geändert.«
»Zumindest hättest du mich warnen können. Vielleicht wäre ich sofort aus Ulan Bator geflohen. Vielleicht wären wir zusammen geflohen, wenn dein Rücktritt dich in Schwierigkeiten gebracht hätte. Aber es lohnt sich nicht, meinetwegen deine Karriere in Gefahr zu bringen, nicht wahr?«
»Fliehen? Wohin denn? Er würde uns beschatten lassen. Nichts leichter als das, bei zwei so auffallenden Erscheinungen. Nach ein paar Tagen würde er beschließen, wir hätten lange genug Ferien gemacht, und die Milizionäre würden uns festnehmen und zurückbringen.«
»Vielleicht.«
»Nicht vielleicht. Und ich würde in der Organfarm enden. Und du würdest nach wie vor Spender für das Avatara-Projekt sein.«
Schadrach denkt darüber nach. »Willst du mir weismachen, daß es keinen Unterschied gemacht haben würde, ob du mich gewarnt hättest oder nicht?«
»Für dich nicht«, erwidert sie. »Für mich würde es einen Unterschied gemacht haben. Die Warnung hätte mich den Arbeitsplatz und vielleicht den Kopf gekostet. So kann ich ein wenig länger überleben.«
»Ich wünsche mir immer noch, daß du diejenige gewesen wärst, die es mir sagte.«
»Anstelle von Katja?«
»Wann sagte ich, Katja sei diejenige gewesen?«
Nicki lächelt. »Das brauchtest du nicht eigens zu erwähnen, Schadrach.«
19. August 2009
Ein angenehmer Sommertag in Ulan Bator. Sommer auf der ganzen nördlichen Halbkugel. Die Zeit der Liebenden. Werfe ich einen Blick auf die Bildschirme im Kontrollraum, dann sehe ich die Liebenden Arm in Arm durch die Straßen der Städte gehen. Die zärtlichen Blicke, die flüchtigen Küsse, das Aneinanderreiben der Hüften. Selbst die von Organzersetzung Befallenen schlurfen gemeinsam dahin, versuchen sich im Liebestanz, obwohl der langsame Tod schon in ihnen frißt. Dummköpfe? Ich glaube, ich erinnere mich, wie dieser Tanz geht, obwohl ich alles das seit fünfzig Jahren hinter mir habe, gottlob hinter mir habe. Die Aufregungen der ersten Begegnung, die Spannungen und Einschätzungen, das Vorfühlen und Parieren, das
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