Schadrach im Feuerofen
Überspringen des Funkens, die Auflösung der Barrieren, die erste Umarmung, die zärtlichen Worte, die Gelübde, das Gefühl des Verschwörerischen, zwei gegen die ganze Welt, die Zuversicht, daß alles das ewig währen werde, die Entdeckung, daß dem nicht so ist, Eifersuchtsszenen, Entfremdung, dann die Trennung, der Schmerz, das heilende Vergessen – ach ja, auch ich tanzte einst diesen Tanz, ich kannte dieses Spiel. Lang ist es her. Welchem Zweck dient es? Ein Betäubungsmittel für das schmerzende Ego. Ein Schmiermittel für biologische Notwendigkeiten. Eine Unterhaltung, eine Ablenkung, eine Albernheit. Und vor allem eine ungeheure Zeitvergeudung. Sobald ich das Spiel als das erkannte, was es ist, entsagte ich ihm, und habe es nie bedauert. Man sehe sich an, wie die Paare daherschlendern!
>Ewige Liebe<. Manches mag ewig währen, aber Liebe? Ausgerechnet Liebe? Sie ist ein labiler Zustand, thermodynamischer Unsinn, zwei Energiequellen, zwei Sonnen, die sich bemühen, in Umlaufbahnen umeinander einzutreten, jede bestrebt, der anderen Licht und Wärme mitzuteilen. Wie hübsch das klingt, und wie wenig plausibel. Natürlich bricht das System früher oder später unter den Beanspruchungen der Gravitation zusammen, und die eine reißt die andere in Stücke, oder sie nähern sich spiralig der selbstzerstörerischen Kollision, oder sie fliegen auseinander. Eine Energieverschwendung, ein sinnloses Verausgaben von Lebenskraft. Liebe? Man müßte sie abschaffen!
Schadrach findet vorübergehend Zuflucht in der Zimmermannsarbeit. Bisher hat er amüsiert und ein wenig geringschätzig auf diese neuartige Form asiatischen Strebens nach Besinnung, Konzentration und Selbstvervollkommnung herabgesehen, die eingeführt wurde, um die alten, als individualistisch, religiös oder elitär verpönten Meditationstechniken abzulösen. Aber jetzt, zermürbt und verzweifelt und nicht länger der gelassene und in sich ruhende Schadrach vergangener Tage, überläßt er sich willig ihrem heilenden Einfluß. Die Welt hat sich um ihn zusammengezogen. Nach außen hin scheint alles unverändert; seine Arbeit geht weiter, er widmet sich seinen ärztlichen Pflichten, seinen gymnastischen Übungen und seiner Sammlung, doch in diesen zwei Tagen, seit er erfahren hat, was ihm bevorsteht, ist Schadrach immer unruhiger geworden. Der vertraute und angenehme Lebensrhythmus kann ihn nicht mehr zusammenhalten. Angst und das Bewußtsein hoffnungsloser Einsamkeit sind in seine Seele eingesickert, und das einzige Gegenmittel ist Hingabe an eine Kraft, die größer ist als er selbst, größer auch als der Vorsitzende, die ihn umfangen und aufrichten kann. Wenn es ihm gelingt, wird er die Zimmerei zum Vehikel dieser Hingabe machen. Mit Hammer und Nägeln, mit Stemmeisen und Schlegel, mit Hobel und Säge sucht er wenn schon nicht Erlösung, dann wenigstens vorübergehende Befreiung von seiner Seelenqual.
In Karakorum gibt es eine große und eindrucksvolle Werkstatt, doch herrscht in dem Ort immer eine Karnevalsatmosphäre, die alles trivialisiert, was er dort tut, sei es Zimmermannsarbeit oder Traumtod oder Transtemporalismus oder bloße Unzucht. Diesmal befindet er sich in einer echten geistigen Notlage, und so geht er zur nächsten Werkstatt in Ulan Bator, die unten am Tuula-Fluß in einem der stuckverzierten weißen Gebäude aus den ersten Jahrzehnten der mongolischen Volksrepublik untergebracht ist.
Es ist eine sehr nüchtern und funktional eingerichtete Werkstatt, der man auf den ersten Blick nicht ansieht, daß sie einem über das bloße Verfertigen von Holzgegenständen hinausreichenden Zweck dient. Große kahle Räume, flackernde Leuchtstoff röhren, der Geruch von Sägemehl, Leim und Lack – es könnte eine gewöhnliche Werkstatt des örtlichen Tischlerkollektivs sein, wären nicht die Stille und die eigentümliche Konzentration, mit der die Männer und Frauen an den Werkbänken ihren Arbeiten nachgehen. Am Eingang entrichtet Schadrach eine geringe Gebühr für die Unkosten der Werkzeugbenutzung und des Materialverbrauchs und wird zu einem Spind geführt, wo er seinen Straßenanzug gegen saubere Arbeitskleidung eintauschen kann. Dann sucht er sich eine freie Werkbank. Auf ihr liegt ein schimmerndes Sortiment gut geölter, gepflegter Werkzeuge in einer Anordnung, die einen japanischen Blick für Symmetrie und Ordnung verrät. Stemmeisen verschiedener Größen, Hämmer und Schlegel, Schnitzmesser, Bohrer, Zangen, Feilen, Lineale, Winkelpasser,
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