Schadrach im Feuerofen
gütigen Erlaubnis werde ich zum Zeitpunkt der Trauerfeierlichkeiten nicht in Ulan Bator sein.«
Der alte Mann hebt überrascht die schweren Lider, aber nur für einen Moment. »So?« sagt er.
»Ich möchte für eine Weile fort«, sagt Schadrach. »Die letzte Zeit war sehr anstrengend für mich.«
»Sie sehen tatsächlich blaß aus, Doktor«, sagt der alte Mann trocken.
»Ich bin sehr müde, ja.«
»Ja. Armer Mann.«
»Sie sind seit der Leberverpflanzung viel kräftiger geworden«, sagt Schadrach. »In den kommenden Wochen werden Sie mich nicht mehr jeden Tag benötigen. Selbstverständlich kann ich jederzeit schnell nach Ulan Bator zurückkommen, falls irgendeine Notsituation eintreten sollte.«
Die glitzernden kleinen Augen mustern ihn forschend. Schadrachs Ankündigung scheint den alten Mann kaum zu beunruhigen. Schadrach fühlt sich verunsichert; er hat nicht den Wunsch, unentbehrlich zu sein und die aus Unentbehrlichkeit erwachsende Bürde zu tragen, aber auf der anderen Seite sähe er es gern, wenn der Vorsitzende ihn für unentbehrlich halten würde. Seine einzige Rettung liegt jetzt in der Unentbehrlichkeit.
»Wohin wollen Sie?« fragt der Vorsitzende.
»Darüber habe ich noch nicht entschieden.«
»Sie haben noch keine Vorstellung?«
»Nein. Fort von hier, das ist alles, was ich weiß.«
»Ich verstehe. Und für wie lange?«
»Ein paar Wochen. Höchstens einen Monat.«
»Es wird seltsam sein, Sie nicht in der Nähe zu haben.«
»Dann habe ich Ihre Erlaubnis?«
»Selbstverständlich haben Sie meine Erlaubnis.« Der alte Mann lächelt heiter, sehr zufrieden mit seiner Großzügigkeit. Dann geht plötzlich ein Schatten über seine Züge, die Stirn legt sich in tiefe Falten, und ein düsterer und besorgter Ausdruck kommt in die Augen. »Aber was, wenn ich krank werde? Angenommen, ich erleide einen Schlaganfall. Angenommen, mein Herz versagt?«
»Natürlich kann ich jederzeit sofort zurückkehren, wenn…«
»Es macht mir Sorgen, Doktor, Sie nicht bei mir zu haben.« Der alte Mann wiegt bedenklich den Kopf von einer Seite zur anderen, und seine fistelnde Altmännerstimme gewinnt einen räsonierenden, querulatorischen Unterton. »Was soll werden, wenn die Immunreaktion des Körpers auf die verpflanzten Organe einsetzt? Wenn meine Nieren versagen? Sie wissen rechtzeitig Bescheid, wenn Gefahr im Verzug ist, Sie können rasch reagieren. Wenn aber…« Er bricht ab, beginnt plötzlich zu lachen. Seine Stimmung scheint abermals umzuschlagen; die eben noch vorgebrachten Befürchtungen scheinen vergessen, und ein sonderbares, leeres Lächeln geht über die zerfurchten Züge. Nachdem er verstohlene Blicke nach beiden Seiten geworfen hat, um sich zu vergewissern, daß niemand mithört, sagt er in vertraulichem Ton: »Manchmal höre ich Stimmen, Doktor, wußten Sie das? Wie die Heiligen und die Propheten der alten Religionen. Unsichtbare Ratgeber besuchen mich. Flüstern und wispern. Sie kommen immer, wenn ich sie brauche. Um mich zu warnen und anzuleiten.«
»Stimmen, sagten Sie?«
Der alte Mann zwinkert, legt den Kopf auf die Seite. »Sagten Sie was?«
»Sie sagten mir, daß Sie manchmal Stimmen hören.«
»Das sagte ich? Ich sagte nichts von Stimmen. Was für Stimmen? Wovon reden Sie da, Doktor?« Er lacht wieder, ein glucksendes, kurzatmiges Lachen. »Stimmen! Was für eine Verrücktheit! Nun, halten wir uns nicht mit solchen Albernheiten auf.« Er legt den Kopf zurück und späht listig zu Schadrach auf. »Dann werden Sie also bald Ferien von dem alten Mann und seinen Beschwerden haben, nicht wahr?«
Schadrach schwitzt. Hat der Vorsitzende einen psychotischen Schub, oder ist es nur eins von seinen Spielen?
»Einen kurzen Urlaub, ja«, sagt er unsicher.
»Ja«, pflichtet ihm der Vorsitzende bei. »Das ist verständlich, ja. Aber daß Sie am Staatsbegräbnis und an den Trauerfeierlichkeiten nicht teilnehmen werden… ein Jammer, wirklich…«
»Ich bedaure das auch«, sagt Schadrach. »Aber ich brauche wirklich eine Erholungspause. Andere Gesichter, eine andere Umgebung…«
»Ja, selbstverständlich. Machen Sie Ihre Reise, Doktor, wenn Sie glauben, es nötig zu haben.«
Endlich. Schadrach seufzt erleichtert. Es gab ein paar unbehagliche Augenblicke, aber er hat die Erlaubnis bekommen.
Seltsam. Es war wirklich nicht allzu schwierig.
1. Juni 2012
Als Mordechai wegen seines Urlaubs zu mir kam, wagte er mir kaum in die Augen zu sehen. Wahrscheinlich fürchtete er, daß ich sein Gesuch
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