Schadrach im Feuerofen
ablehnen würde. Was hätte er getan, wenn ich hart geblieben wäre? Vielleicht hätte er sich trotzdem davongemacht. Er scheint verzweifelt, mit den Nerven am Ende. Hatte diesen Blick eines Mannes, der mit dem Rücken an der Wand steht. Vor denen muß man sich immer in acht nehmen. Man muß seine Gegenspieler beherrschen, ja, aber man darf sie nicht in die Enge treiben. Es ist wichtig, ihnen genug Spielraum zu lassen; auf diese Weise behält man selbst auch Spielraum.
Ich frage mich, warum er weg will.
Ermüdet, sagte er. Ruhebedürftig. Nun, das mag sein. Aber es steckt noch mehr dahinter. Es hat etwas mit Avatara zu tun. Denkt er vielleicht ans Untertauchen? Dazu ist er zu vernünftig. Er muß wissen, daß er mit seiner exotischen Erscheinung nicht einfach untertauchen kann. Was dann? Rebellion? Will er einfach sehen, was passiert, wenn er zum Alten geht und ihm sagt, er nehme einen Monat Urlaub und verreise mit unbekanntem Ziel? Dann kennt er mich schlecht. Natürlich lehne ich solche Ansuchen nicht ab. Es ist viel interessanter, ihn gehen zu lassen und zu sehen, was er macht.
Das erste Zeichen von Unabhängigkeit, das der arme Teufel jemals gezeigt hat. Wurde Zeit.
Was soll werden, wenn ich während seiner Abwesenheit ernstlich krank werde?
Herz. Leber. Lunge. Nieren. Gehirnblutung. Rippenfellentzündung. Herzbeutelentzündung. Urämie. Dieser Körper ist zerbrechlich, verwundbar, nichts als Fleischstücke, die zusammenhängen und über Nacht auseinanderfallen können.
Sollte mir deswegen keine Sorgen machen. Fühle mich gut. Ich fühle mich großartig. Ich bin bei außerordentlich guter Gesundheit. Ich bin von diesem Mordechai nicht abhängig.
Aber wie, wenn er eine Möglichkeit gefunden hat, wirklich zu verschwinden? Zwar ist diese Chance nicht groß, aber man darf sie nicht völlig außer acht lassen. Was wird dann aus Avatara? Dann muß ein weiterer Spender gefunden werden. Aber ich will ihn. Wann immer ich ihn sehe, muß ich denken, wie wohlgestaltet sein Körper ist, wie geschmeidig, wie elegant. Mir liegt wirklich daran, den Körper eines Tages zu tragen.
Ist es dann nicht zu riskant, ihn aus den Augen zu lassen?
Aber er kann nicht untertauchen und unentdeckt bleiben. Allenfalls in Afrika. Oder in Amerika.
Außerdem kenne ich ihn. Seine Reise beunruhigt mich nicht. Er wird seinen Urlaub machen, und dann wird er zurückkommen. Aus freien Stücken. Ja, er wird zurückkommen.
Es ist an der Zeit, sich über die Auswahl von Reisezielen Gedanken zu machen. Schadrach kann reisen, wohin er will, ungeachtet der Kosten; er gehört zur herrschenden Elite, ist ein Privilegierter, der die Segnungen der Immunisierung und mancherlei andere Vorteile genießt. Aber wohin soll er gehen?
Auf der Suche nach einer Entscheidungshilfe begibt er sich in den Kontrollraum 1.
Obwohl er oft vor den Reihen der Bildschirme gestanden hat, um einen Blick in die Aktivitäten der Außenwelt zu tun, ist dies das erste Mal, daß er ans Steuerpult tritt und versucht, auf den Ablauf der kaleidoskopartigen Szenen Einfluß zu nehmen.
Hunderte von farbigen Knöpfen sind vor ihm angeordnet. Reihen von roten, grünen, gelben, blauen, violetten und orangefarbenen Knöpfen. Er hat keine Ahnung, welche Funktionen sie im einzelnen haben. Seine Hände schweben über dem Pult wie die eines angehenden Organisten, der sein gewaltiges Instrument ein erstes Mal zum Erklingen bringen soll. Gibt es ein System? Die Szenen auf den Bildschirmen ringsum wechseln in unterschiedlichen Intervallen; während manche alle paar Sekunden einen neuen Aufnahmestandort zeigen, bleibt das Bild bei anderen minutenlang konstant. Schadrach drückt einen grünen Knopf. Nichts scheint sich zu ändern. Dann bedeckt er ein Dutzend grüner Knöpfe mit der Handfläche und drückt sie alle gleichzeitig ein. Ah. Nun scheint etwas zu geschehen. Eine Reihe von Bildschirmen oben und zu seiner Rechten zeigt unverkennbar europäische Städte: Paris, London, Prag, Wien, Stockholm. Anscheinend sind die Farben der Bedienungsknöpfe den Kontinenten zugeordnet.
Schadrach läßt die grünen Knöpfe eingedrückt und legt seine Hand auf eine Reihe der orangefarbenen. Nach kurzer systematischer Suche entdeckt er gleich darauf zu seiner Linken eine Anzahl von Szenen, die in nordamerikanischen Städten aufgenommen sein müssen. Die Schachtelarchitektur, deren öde Uniformität den größten Teil des zwanzigsten Jahrhunderts beherrscht hat, verhindert eine genauere Zuordnung. Die
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