Schäfers Qualen
zurück in sein Zimmer. Außer seinem Namen stand nichts auf der braunen Packpapierhülle. Schäfer befühlte das Kuvert vorsichtig und öffnete es: zehn A4-Seiten, Schwarz-Weiß-Kopien, auf jedem Blatt eine Doppelseite eines von Hand beschriebenen Notiz- oder Tagebuchs. Auf dem obersten Blatt war ausschließlich ein schwarzes Deckblatt abgebildet: A. R. Logbuch. Schäfer stellte seinen Rucksack ab und ging auf den Balkon, wo er sich mit den Zetteln in den Liegestuhl setzte. Auf den ersten Blick konnte er keinen Sinn in den Buchstaben- und Zahlenkombinationen erkennen, die der Schreiber scheinbar ohne System auf das Papier gekritzelt hatte. Es fand sich kein ausgeschriebenes Wort, geschweige denn ein ganzer Satz. Manche Zahlenreihen erinnerten an euklidische Algorithmen, dann stieß Schäfer wieder auf eine Aneinanderreihung von gut hundert Konsonanten, die höchstens durch einen Doppelpunkt abgeteilt waren. Was sollte er mit diesem Rätselmagazin? Wer immer ihm dieses mysteriöse Manuskript geschickt hatte, konnte doch nicht ernsthaft davon ausgehen, dass er sich auf die Dechiffrierung von irgendwelchen diffusen Codes verstünde. Schäfer legte die Zettel auf den Tisch, stellte den Aschenbecher darauf und ging ins Zimmer, um zu telefonieren.
„Hallo Bergmann, ich bin’s. Sagen Sie: Kennen Sie sich eigentlich mit Codes aus? … Na, mit so Verschlüsselungen, die man verwendet, um Botschaften geheim zu halten … Enigma und so, Sie wissen schon … Weil ich da eben ein seltsames Dokument bekommen habe. Das Einzige, was ich verstehe, ist, dass es das Logbuch von einem A. R. ist, womit höchstwahrscheinlich Andreas Radner gemeint ist … Keine Ahnung, aber nach dem, was heute Nacht passiert ist, würde ich einmal davon ausgehen, dass es wichtig ist … Nein, da müsste ich wieder aufs Revier. Ich faxe es Ihnen von der Rezeption aus … Na, so schnell wie möglich natürlich … Danke.“
Er steckte das Telefon zurück in die Außentasche seines Rucksacks, nahm die Kopien, schloss die Balkontür und verließ das Zimmer. Ob er schnell ein Fax abschicken könnte? Die Rezeptionistin erklärte ihm das Gerät und wandte sich diskret ab.
Mit den Originalen und den Sendebestätigungen in der Hand fragte er sie nach einer Klarsichtfolie, um die Zettel später vor seinen nassen Badesachen zu schützen. Als er vors Hotel trat, sah er auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Graffl-Wetti – diesmal allerdings ohne ihren Hund. Der erste Gedanke, der Schäfer kam, war: Argos musste gestorben sein. Eine Vorstellung, die ihn traurig machte. Er sah ihr nach, bis sie in der Bäckerei verschwunden war. Fast wäre er ihr nachgegangen, um sich nach dem alten Schäfer zu erkundigen. Doch er entschied sich anders und schlug den Weg in Richtung See ein. Schließlich hatte auch er seine Toten, um die er sich zu kümmern hatte.
40
Nachdem Schäfer einen Liegeplatz unter zwei Birken gefunden hatte, die ihm ausreichend Schatten spenden würden, packte er seinen Rucksack aus und bemerkte, dass er vergessen hatte, eine Badehose zu kaufen. Danningers schwarzes Stoffrelikt in Ehren – aber so sehr sie dem Image eines Pfarrers entsprach, so wenig passte sie zu einem eitlen Polizisten. Schnellen Schritts ging Schäfer zum Ufer und sprang in den See, ohne mit den Füßen die Temperatur zu prüfen, wie er es für gewöhnlich tat. Er tauchte, so lang es seine Lungen zuließen und kraulte dann zügig in die Mitte des Sees. Wo er sich auf dem Rücken treiben ließ und in den Himmel sah. Wie sehr er diesen Ort liebte: das warme Moorwasser im Sommer, die vereisten Schilfhalme im Winter. Und wie sehr ihm die Erinnerung aufs Gemüt drückte, obwohl doch das meiste, was er hier erlebt hatte, von guten Gefühlen begleitet gewesen war. Jedes Unglück, egal wie groß oder klein, ist ein mächtiger Maler … wie es mit seinen düsteren Farben selbst Augenblicke eintrübt, die in der Erinnerung mit einer goldenen Aura umgeben sein müssten. Die Momente, in denen sie sich für unsterblich gehalten hatten … Wie sonst hätte man sich ihre Bereitschaft erklären können, wahllos kleine, auf Almwiesen gefundene Pilze zu verzehren, in der Hoffnung, etwas Psilocybin abzubekommen … um die Langeweile zu verdrängen, um sich über den Zustand der Masse zu erheben, deren Welt- und Selbstverständnis sie nie teilen würden. Schäfer musste lächeln, als er sich an die gemeinsame Vision eines Kampfgeschwaders erinnerte, ausgelöst von ein paar träge über die
Weitere Kostenlose Bücher