Schäfers Qualen
Blumen brummenden Hummeln … an den Abend am See, als sich sein Bruder eine Stunde lang begeistert über die Haut gestreichelt hatte, weil er in der Vorstellung gefangen war, von einem Katzenfell überzogen zu sein. Womöglich war es die Suche nach dem Wahren gewesen, die sie in diesem von Bigotterie, lächelnder Habgier, offen zur Schau gestellter Korruption und vom Größenwahn der größten Idioten verseuchten Ort in diese Exzesse getrieben hatte. Wo sonst wäre ein Ausweg gewesen? In der Ignoranz, in Mitläufertum und Opportunismus … denn daran konnte sich zweifelsohne jeder bereichern, der darauf schaute, sein Bild in den Rahmen einer schönen Umgebung zu stellen. Das war das größte Dilemma: dass die Natur und die Begeisterung der Gäste vielen einen Freibrief ausstellten, sich in bewundernswerter Fremd- und Selbsttäuschung nicht nur über das Gesetz zu stellen, sondern auch grinsend auf die christlichen Gebote zu spucken, denen man scheinbar an jedem Eck huldigte. Wie logisch, dass er Polizist geworden war – wobei die andere Seite genauso möglich gewesen wäre. Doch die Energie, die man brauchte, um als ehrlicher Krimineller den staatlich sanktionierten Gesetzeshütern zu entkommen, fehlte einem zur Tat und würde das Unterfangen irgendwann unrentabel machen, davon war er überzeugt. Da waren die Polizei und eine manchmal flexibel gehandhabte Amtsgewalt in den meisten Fällen praktikabler. Anders verhielt es sich hier: Dem Täter hatte es gar nicht genügen können, den Mord an Radner im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten aufzudecken. Denn wie wären die Chancen gewesen, die Verantwortlichen zu belangen? Schäfer kannte die Ohnmacht, die einen befallen konnte angesichts der Unantastbarkeit mancher Personen und Verhältnisse. Wo es nicht nur um Geld ging, sondern um undurchschaubare Vernetzungen, Schuldigkeiten, festgefahrene Gewohnheiten, Angst vor Veränderungen und andere unerklärliche Umstände, die manche still resignieren ließen und andere gefährlich wütend machten. Und an ihm war es jetzt, diesen Mann festzunehmen und einem Gericht zuzuführen, das ihn wegen mehrfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilen würde. War da ein weiterer Mord eigentlich noch relevant? Wenn er jemanden aus der Welt schuf, dem seine Verbrechen wahrscheinlich nie angelastet werden konnten? Schäfer presste die Luft aus seinen Lungen und ließ sich in das dunkle Moorwasser hinabsinken. Sonnbichler, Sonnbichler, Sonnbichler. Hatte er Radner getötet? Oder Obernauer die Pistole an den Kopf gesetzt? Oder war er nur ein Mitläufer gewesen, ein Komplize des Bankraubs, dem es nur darum gegangen war, sich ein schönes Haus für die Pension zu kaufen. War sich Schäfer so sicher, weil er mit einer außergewöhnlichen Intuition begabt war? Konnte er sich selbst noch vertrauen? Würde es etwas bringen, einen Tag zuzuwarten, um eine dienstliche Sicht zurückzugewinnen? Schäfer erschrak, als schleimige Algen an seinen Füßen streiften, und tauchte schnell an die Oberfläche. Mit kräftigen Zügen schwamm er ans andere Ufer, blieb dort kurz auf einer Holzstiege sitzen und kraulte zurück.
Er stieg aus dem Wasser, lief zu seinem Liegeplatz zurück, trocknete sich ab, nahm seine Zigaretten und von Habermanns Buch aus dem Rucksack. Als er die erste Seite gelesen hatte, holte er sich sein Telefon, um nachzusehen, ob ihn jemand angerufen hatte. Eine Nachricht auf der Mailbox, die Schäfer umgehend abhörte. Bergmann hatte die Dokumente schnell durchgesehen: Zwar hätte jede Seite einen anderen Code, aber zumindest die ersten fünf wären so simpel, dass sie eher an die Geheimschrift von Verliebten erinnerten, die ihre Botschaften vor den Eltern geheim halten wollten, als an eine komplizierte Verschlüsselungsmethode einer terroristischen Gruppe. Wenn auch die anderen Codes so einfach waren, würde er die Übersetzung spätestens morgen früh schicken können. Schäfer ärgerte sich über sich selbst, weil er dem Manuskript offenkundig zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet hatte – denn wenn es wirklich so einfach verschlüsselt war, würde er damit doch keine Probleme haben. Doch obgleich die Möglichkeit zur Überprüfung seiner Fähigkeiten in seinem Rucksack steckte, gab er sich vorerst damit zufrieden, dass Bergmann ihm die Arbeit abnahm, und widmete sich wieder von Habermanns Erzählung.
Nachdem er nicht einmal die Hälfte gelesen hatte, legte er ein trockenes Birkenblatt zwischen die Seiten und klappte das dünne Büchlein
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