Schäfers Qualen
zu. Er hatte sich getäuscht. Zwar war er mit keinen hohen Erwartungen an die Lektüre gegangen, hatte sich aber zumindest einige Details über den Hergang der Entführung sowie die beteiligten Personen erhofft. Von Habermann hatte einen Therapeuten erwähnt. Da war es doch nicht abwegig, mit Informationen zu rechnen, die etwa mittels Hypnose aus den zugeschweißten Bereichen des Gehirns freigelegt worden waren. Nichts davon. Stattdessen eine blumige Selbstzerklaubung, penible Beschreibungen von Kindheitserinnerungen, in denen neben dem Schreiber dessen Schwester eine zentrale Rolle einnahm. Und mit fortlaufender Lektüre war Schäfer mehr und mehr zur Überzeugung gelangt, dass er einen literarischen Selbsttherapieversuch in Händen hielt, mit dem von Habermann weniger das Trauma der Entführung lösen, als sich vielmehr von seiner Homosexualität befreien wollte, die er in einigen sehr wirren Passagen als Fluchtreaktion seiner Seele aus den Fesseln der Liebe erklärte, die er für seine Schwester Hanna empfand – quasi der Fuchs, der sich was abbeißen musste.
Er klappte das Buch zu, steckte es in den Rucksack und zündete sich eine Zigarette an. Sein Magen knurrte. Eigentlich hatte er sich etwas zu essen kaufen wollen, erinnerte er sich. Und worauf wartete er hier, fragte er sich. Er nahm sein Telefon und suchte die Anrufliste durch.
„Schönen Tag, Herr Sonnbichler. Hier ist Major Schäfer von der Kriminalpolizei Wien. Ich ermittle im Fall der drei ermordeten Kitzbüheler und wollte Ihnen diesbezüglich ein paar Fragen stellen … Herr Sonnbichler? … Ja, offiziell ist der Fall abgeschlossen, natürlich, aber aufgrund neuer Beweise sieht die Situation ein wenig anders aus … Keine Sorge … Nein, es geht nur um ein paar Unklarheiten bezüglich des Überfalls auf die Bank, deren Filialleiter Sie damals waren … Nun, zum Beispiel, warum Sie angeschossen worden sind. Wenn es Profis waren – und davon gehen wir ja aus –, dann hätten die nur geschossen, wenn Sie sich gewehrt hätten, oder um keine Zeugen zurückzulassen. Beides war nicht der Fall. Also ein einzelner Schuss … Das ergibt doch keinen Sinn, oder? … Schäfer ist mein Name … Natürlich bin ich Polizist … Was oder wer sollte ich denn sonst sein? Und warum sollte ich Sie denn sonst anrufen? … Das hab ich Ihnen doch schon gesagt, Herr Sonnbichler: Ich bin Major Schäfer von der Kriminalpolizei Wien und ich wollte Ihnen ein paar Fragen stellen zu gewissen Vorkommnissen in Ihrer Vergangenheit … Wieso sollte ich ein Erpresser sein … Womit sollte ich Sie denn erpressen können?“
Schäfer legte auf und steckte sein Telefon zurück in den Rucksack. Er zog sich um, packte seine Sachen ein und machte sich auf den Weg in die Stadt.
41
Schäfer stand in der Einfahrt und bestaunte, was von der Villa des Anwalts übrig geblieben war. Das Ausmaß der Zerstörung war weitaus größer, als er es sich vorgestellt hatte. Einzig aus den Resten der Grundmauer konnte man sich ein Bild von der ehemaligen Größe des Hauses machen. Vom Dachstuhl waren nur zwei dicke verkohlte Holztrame übrig geblieben, die über Kreuz in der Mitte des Brandorts lagen. Darunter ein dampfender Haufen an oxydierten oder gänzlich geschmolzenen Rohren und Blechteilen, das Fragment eines Herdes, ausgeglühte Fensterrahmen und schwarze amorphe Klumpen in verschiedener Größe. Als er durch den Garten ging, stieg er über zersprungene Fassadenplatten, Fliesen, Geschirrteile, Metallgerippe, die einmal Designerstühle gewesen sein mochten, Waschbecken, Heizkörper, Matratzenfedern, die wie Gewächse von einem anderen Stern aus dem Schutt wuchsen; er bückte sich und hob ein angesengtes Buch über das Römische Recht auf, das die Wucht der Explosion weit fortgeschleudert und so vor dem Feuer bewahrt hatte; er stieg vorsichtig über die grün glänzenden Sicherheitsglas-Splitter, die sich wie ein böser Kranz um die Ruine legten. Die Beamten von der Spurensicherung waren so in ihrem Tun gefangen, dass sie Schäfer keinerlei Aufmerksamkeit widmeten, bis er direkt an einen von ihnen herantrat.
„Und? Wie lange braucht ihr noch?“, fragte er den Mann, der aussah wie ein Grubenarbeiter. „Ich bin Major Schäfer von der Kriminalpolizei Wien“, ergänzte er, als dieser ihn ansah, als sei er ein unerwünschter Katastrophentourist.
„So lang, wie wir brauchen“, entgegnete der Beamte mürrisch, „schauen Sie sich mal um. Was soll man denn da noch finden?“
„Habt ihr keine
Weitere Kostenlose Bücher