Schaenderblut - Thriller
ermorden, sondern darüber hinaus ihre Leichen aufbewahren können. Auf diese Weise üben sie eine Kontrolle über ihre Opfer selbst nach deren Tod aus. Dieser degenerative Zyklus führt zu extremstem psychosexuellem Verhalten. Kannibalismus steht am Scheitelpunkt dieser Kurve. Die Opfer zu verzehren, ist die ultimative Form von Kontrolle. Sobald man einen Menschen verschlungen hat, besitzt man ihn für immer. Er wird so zu einem untrennbaren Bestandteil der eigenen Identität.«
Der Professor schien während seines Vortrags direkt in Joes Augen zu blicken, als richte sich jede seiner Bemerkungen ausschließlich an ihn. Als wüsste er genau Bescheid. Joe rutschte nervös auf seinem Stuhl umher und knetete seine verschwitzten Hände. Die Worte des Professors klangen in seinen Ohren wie eine Anklage und Joe hatte das Gefühl, vor einem Tribunal zu stehen. So musste es sich anfühlen, wenn sie ihn irgendwann schnappten. Er starrte den Dozenten intensiv an, der das, was sich in seinem Geist abspielte, so bildhaft beschrieb, als lese er in seinen Gedanken, fühle jede einzelne bebende Wahrnehmung, schäle sämtliche entsetzlichen Fantasien heraus. Er nannte die Dämonen seiner Seele beim Namen und das vor einer Ansammlung von Fremden.
Joe wäre am liebsten schreiend aus dem Raum geflüchtet. Doch er zwang sich ein Lächeln ins Gesicht und hielt wacker dem Ansturm der Worte stand, bis er es nicht länger aushielt.
»Aber was ist, wenn es gar nicht um Kontrolle geht?«, platzte er heraus.
Der ganze Raum drehte sich zu ihm um und er fühlte sich unglaublich verwundbar.
»Was sollte es denn sonst sein, Joseph? Ein Mensch ermordet, vergewaltigt und konsumiert einen Fremden. Worum sollte es ihm gehen, wenn nicht darum, seine Dominanz und Macht unter Beweis zu stellen? Ein anderes menschliches Wesen seinem Willen zu unterwerfen? Diese Männer sind Sadisten!«
»Nein!« Wieder schossen alle Köpfe zu ihm herum. Joe stand nervös auf und holte tief Luft. Er bemühte sich, kontrolliert zu sprechen. »Ich meine ... bestimmt nicht alle von ihnen. Nicht alle foltern ihre Opfer. Manche töten sie, bevor sie mit den eigentlichen Grausamkeiten beginnen. Insofern kann es nicht allen darum gehen, Schmerzen zu verursachen.«
»Können Sie uns eine andere Motivation anbieten, Joseph?«
»Vielleicht geschieht es aus Liebe.« Lautes Gelächter erscholl und Joe sah von Gesicht zu Gesicht, während ihm das Blut in die Wangen schoss.
»Liebe?«
»Ja. Was ist Liebe denn anderes als das unbändige Verlangen, sich mit dem Objekt seiner Liebe zu vereinen? Das ist der Grund, weshalb Menschen heiraten – um zwei Seelen zu einer zu verschmelzen. Aber natürlich ist das lediglich ein symbolischer und unvollkommener Akt. Die Ehe ist nichts als die Illusion einer Vereinigung. Kannibalismus geht da viel weiter. Er könnte die ultimative Möglichkeit sein, tief greifende Gefühle für einen anderen Menschen zum Ausdruck zu bringen.«
Professor Locke musterte Joe mit sichtlicher Besorgnis. Alle im Hörsaal gafften ihn an und waren sprachlos. Einige der Studenten trugen ein abfälliges Grinsen zur Schau, bei anderen erkannte er eindeutig Anzeichen von Abscheu. Sie dachten offensichtlich, dass Joe eine Schraube locker hatte. Er selbst stand mit ausgestreckter Hand da, als flehe er den Professor an, ihn zu verstehen.
»Es ... es tut mir leid, Professor Locke.« Joe ließ sich auf seinen Stuhl fallen.
»Nichts, wofür Sie sich schämen müssten. Ich respektiere Ihre Leidenschaft und Ihre ... hm ... interessante Perspektive. Sie stehen möglicherweise dichter davor, diese Monstren zu durchschauen, als Sie glauben. Sie haben absolut recht. Genau so würden einige dieser Ungeheuer ihre Taten rechtfertigen. Jeffrey Dahmer zum Beispiel sagte, er habe sich nichts als einen Freund gewünscht, der ihn niemals im Stich lässt. Aber nüchtern betrachtet sind das durchweg Rechtfertigungsversuche. Diese Ungeheuer tun es, weil es sie sexuell erregt. Weil sie es lieben, andere zu verletzen und zu demütigen. Sie genießen die Macht. Sie genießen die Kontrolle.«
Erneut sah er Joe direkt in die Augen, während er sprach. Joe öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er fand keine passende Erwiderung. Sein Geist wand sich, als ob man ihn verprügelt hätte.
Ich bin ein Monster, dachte er und blickte sich verstohlen um, um sicherzugehen, dass er es nicht laut ausgesprochen hatte. Er klappte den Mund zu und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
Professor Locke
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