Schaenderblut - Thriller
lächelte und drehte den Studenten den Rücken zu, um die Tafel zu wischen. Dabei schüttelte er den Kopf, als amüsierte er sich über einen privaten Witz.
Joe sammelte seine Bücher ein und floh förmlich aus dem Hörsaal. Dabei hätte er beinahe einige Kommilitonen umgerannt. Er stürzte ins Freie und rang verzweifelt nach Atem. Die Welt schien ihn einzuengen, ihn zu bedrängen. Es war, als wüssten alle über ihn Bescheid. Sie spürten das Monster in ihrer Mitte. Die Sonne blendete ihn wie eine Lampe in einem Verhörzimmer, die ihm alle Geheimnisse entlocken wollte. Nun wusste er, warum Vampire das Licht scheuten.
Es dauerte einige Zeit, bis Joe sich so weit gesammelt hatte, dass er zu seiner nächsten Veranstaltung gehen konnte – einem Soziologiekurs, der sich mit Joseph Campbells Mensch und Mythos beschäftigte. Er hatte sich für den Kurs entschieden, weil er hoffte, auf diese Weise mehr über Vampire, Werwölfe und Dämonen aus anderen Kulturen zu erfahren. Der Professor hatte angekündigt, diese Themen abzuhandeln, aber bislang hatte er lediglich über Drachen und Feen und die Mythen auferstandener Heilande referiert, die überall auf der Welt die Runde machten.
Joe quetschte sich auf einen Stuhl und versuchte, in der Masse abzutauchen. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass alle Augen auf ihm ruhten. Einige der Studenten in diesem Kurs saßen auch in seiner Psychologievorlesung. Er konnte sie hinter seinem Rücken tuscheln hören. Sein Zimmergenosse lästerte an vorderer Front mit.
Joe verbrachte so wenig Zeit im Wohnheim, dass er den Typen kaum kannte. Er wusste nur, dass sein Dad irgendein Computergenie war, das doppelt so viel verdiente wie Joes Eltern und seinen verweichlichten, sozial inkompetenten Sohn über alle Maßen verzogen hatte. Der Inbegriff eines Nerds. Ständig hing er vor seinem verdammten Computer. Sein ganzes Leben schien sich um PCs zu drehen.
Joe konnte an den Fingern einer Hand abzählen, wie viele Worte er mit dem anderen gewechselt hatte. Das mochte auch daran liegen, dass er sich so gut wie nie in ihrem gemeinsamen Zimmer aufhielt. Nach dem Unterricht zog er sich meistens in das Apartment in dem verlassenen Mietshaus südlich der Market Street oder in die Bibliothek zurück. Jetzt, wo Alicia gefesselt in dem alten Gebäude lag, würde er dort noch mehr Zeit verbringen.
»Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich ihm zuhöre, Mann. Und ich muss mit dem Typen zusammenwohnen!«
Joe fing einige unzusammenhängende Schnipsel der Unterhaltung auf und kochte in stiller Wut vor sich hin. Sein reicher computersüchtiger Mitbewohner heizte die Gerüchte und das Getratsche genüsslich an.
»Ich bekomme ihn kaum zu sehen. Er haut direkt nach dem Unterricht ab und manchmal kommt er überhaupt nicht zurück ins Wohnheim. Oft ist er tagelang weg. Ich habe ihn einmal in der Bibliothek erwischt, wie er in Büchern über Serienmörder schmökerte. Am nächsten Tag war ich wieder da, und er saß in den gleichen Klamotten da und las im selben Buch, als wäre er nicht eine Sekunde weg gewesen. Ich sag euch, der Typ ist verrückt.«
»Jawoll, völlig abgedreht und ein verdammter Riese! Er könnte dir wahrscheinlich mit einer Hand das Genick brechen«, warf ein schlanker Schwarzer aus dem Leichtathletikteam ein, als der Professor begann, etwas an die Tafel zu schreiben.
Joe konzentrierte sich darauf, was Professor Douglas mit der Kreide notierte, und wurde aufmerksam. Endlich ließ der Mann von Drachen und Heiligen ab und wandte sich Themen zu, die Joe interessierten.
»Gestaltwandler. Werwesen. Der Loup-Garou, der Wendigo, die arme verfluchte Seele, die sich im Licht des Vollmonds in einen Wolfsmenschen verwandelt. Wir alle haben von Werwölfen gehört, aber es gibt noch andere Werwesen in den Mythen und Legenden aus allen Ecken des Globus. Sie tauchen in der Folklore und Mythologie sämtlicher Kulturen auf. Bei den Inuit gibt es eine Legende über die Adlet, ein Volk von Hundemenschen, das der Verbindung einer Inuitfrau mit einem großen roten Hund entsprang. Diese Werhunde sollen noch immer den Norden Islands auf der Suche nach Menschenfleisch durchstreifen. Auf dieses Motiv der Mensch-Tier-Verbindung, aus denen Ungeheuer hervorgehen, stößt man in zahlreichen Überlieferungen.
Möglicherweise sind diese Geschichten als Warnung vor perversen Sexualpraktiken mit Tieren entstanden. Bei den Slawen existieren Überlieferungen, wonach schöne Frauen, die ihre körperlichen Gaben dazu
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