Schaenderblut - Thriller
wäre ich Theologe geworden und nicht Kriminalpsychologe. Ich hatte Philosophie im Nebenfach. Für mich ist es eine andere Art und Weise, das Wesen des Menschen zu studieren. Wenn man die Frage aufwirft, was jemanden dazu verleitet, zu töten, zu vergewaltigen oder zu stehlen – oder fast noch wichtiger: was einen Menschen davon abhält –, stößt man früher oder später auf grundsätzlichere Überlegungen. Worin besteht der wahre Sinn des Lebens? Welcher Sinn lässt sich in unserem alltäglichen Chaos finden? Wenn man sich in jeder wachen Stunde mit der Motivation brutaler Sexualmörder auseinandersetzt, stößt man zwangsläufig auf solche Fragen.«
»Warum haben Sie sich nicht für Naturwissenschaften entschieden?«, schaltete sich Detective Montgomery ein. »Die Philosophie kam mir immer wie ein halb garer Mischmasch aus Wissenschaft und Mystizismus vor. Etwas für Leute, die sich nicht entscheiden können, ob sie an eine höhere Macht glauben sollen oder nicht.« Etwas in der Miene des hoch aufgeschossenen schwarzen Cops ließ den Professor sofort auf der Hut sein. Dieser Mann war nicht zu unterschätzen.
»Jegliche Wissenschaft hat ihren Ausgangspunkt in der Philosophie. Sobald es gilt, eine philosophische Theorie zu beweisen, wird sie zum Gegenstand der Wissenschaft. Aber ohne philosophische Spekulationen gäbe es weder Astronomie noch Psychologie, auch keine Biologie oder Physik. Selbst die Quantentheorie würde nicht existieren. Eines Tages wird auch die Suche nach dem Sinn des Lebens das Reich der Philosophie verlassen und wissenschaftlich angegangen werden. Wenn es so weit ist, bin ich an vorderster Front dabei. Aber Sie sind sicherlich nicht gekommen, um mit mir über meinen Atheismus zu diskutieren.«
»Ich habe sämtliche Informationen, die uns zu Joseph Miles und seinem Modus Operandi bei diesem Mord vorliegen, in die nationale VICAP-Datenbank eingegeben. Heute erhielt ich einen ersten Treffer. Ein junger Mann aus der Gegend wurde in einem Park in Oregon tot aufgefunden. Man hat ihn auf einem Spieß geröstet und teilweise aufgegessen. Auf den Verdacht hin, dass eine Verbindung zu Miles existieren könnte, durchsuchten wir seine Wohnung und entdeckten auf seinem Rechner den Link zu einem Kannibalen-Forum im Internet. Auch über den Computer, den sich Joseph Miles mit seinem Zimmergenossen teilte, wurde diese Seite aufgerufen. Wir können also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass es Miles war, der ihn aufgegessen hat. Ihr Student gerät zunehmend außer Kontrolle. Was glauben Sie, warum er nach Oregon gegangen ist?«
Er befindet sich auf dem Weg nach Washington, wo der Mann lebt, von dem er glaubt, dass er den Fluch auf ihn übertragen hat. Er wird diesen Mann töten, um seinen eigenen Frieden zu finden, dachte Professor Locke.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete er.
»Aber wir! Sagen Sie mir, ob sie Ihrer Meinung nach zu apodiktisch ist.« Detective Volario trat näher an den Professor heran, als wollte er ihn packen und kräftig durchschütteln. Locke wich unwillkürlich einen Schritt zurück. »Wir glauben, er will zurück nach Hause. Er ist in Seattle aufgewachsen und es scheint ihn dorthin zurückzuziehen. Lediglich den genauen Grund kennen wir nicht. Er hat dort keine Familie mehr. Seine Eltern zogen nach Kalifornien, als er zwölf war. Sie wohnen ganz hier in der Nähe, in Hayward. Ich bezweifle, dass er noch Freunde in Seattle hat. Das letzte Mal war er vor fast zehn Jahren dort und in den Anrufprotokollen seines Anschlusses tauchen keine entsprechenden Telefonate auf. Deshalb frage ich Sie: Warum ist er dorthin unterwegs, Doc?«
Locke dachte ausgiebig über seine Erwiderung nach. Sie wollten seine professionelle Einschätzung als Gerichtsgutachter und Kriminalpsychologe hören, hielten ihn aber auch für einen geeigneten Ansprechpartner, weil er den Verdächtigen persönlich kannte. Wenn er Unwissenheit vortäuschte, würden sie sofort argwöhnen, dass er etwas vertuschte. Wenn er ihnen alles sagte, würde man Joseph verhaften und zum Tode verurteilen. Gleichzeitig wäre damit sein eigener Ruf als Kriminologe auf ewig ruiniert und er bekäme nie eine Chance, sein mutmaßliches Heilmittel auf die Probe zu stellen.
Der Professor besaß seine ganz eigenen Beweggründe, warum er Joseph kurieren wollte. Falls es ihm gelang, die mörderische Abhängigkeit des jungen Mannes mit Serotoninhemmern zu stoppen, wäre das ein gewaltiger Durchbruch in der
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