Schaenderblut - Thriller
Behandlung sexueller Straftäter – ein Durchbruch, der seiner Karriere eine zweite Luft verschaffen würde. Die Grundregel der akademischen Welt lautete publish or perish – veröffentliche oder gehe unter –, und er hatte schon seit Jahren nichts Bahnbrechendes mehr publiziert. Eine Abhandlung über die medikamentöse Behandlung von Serienmördern würde ihn zurück an die Spitze bringen. Wenn er nicht nur nachweisen konnte, dass das Serienmörder-Phänomen durch ein Virus ausgelöst wurde, sondern auch eine Heilmethode dafür dokumentierte, war ihm der Nobelpreis so gut wie sicher. Zu viel Potenzial, um es in die Hände zweier ignoranter Cops zu legen. Aber er musste sich eine plausible Lüge ausdenken.
Die Polizisten waren offensichtlich auf der falschen Spur und noch nicht auf die Verbindung zwischen Joseph Miles und dem Kindermörder Damon Trent gestoßen. Deshalb würden sie nicht in Tacoma nach Joseph fahnden, wo Trent in der Psychiatrie eingesperrt war, sondern gingen wie selbstverständlich davon aus, dass es ihn zurück in seine Heimatstadt zog. Der Professor musste sie lediglich in dieser Überzeugung bestärken.
»Es gibt viele Gründe, weshalb er unterwegs nach Seattle sein könnte. Es besteht beispielsweise die Möglichkeit, dass seine Wahnvorstellungen sich auf eine bestimmte Fantasie aus seiner Kindheit konzentrieren. Auf eine Person, die er so anziehend fand, dass daraus kannibalische Tendenzen hervorgingen. Ebenso ist denkbar, dass sich während der Pubertät sein erwachender Sexualtrieb mit einem Hungergefühl vermischt hat. Vielleicht gab es auch eine Babysitterin, die einen bestimmten Duft an sich hatte, der ihn an etwas zu essen erinnerte und so eine pawlowsche Reaktion auslöste. Oder eine Kellnerin in einem Restaurant, das seine Familie regelmäßig besuchte. Es könnte durchaus auch die Bedienung in der Bäckerei um die Ecke sein.«
»Dann würde er dorthin zurückkehren ...«
»... um diese Fantasie auszuleben, ganz genau. Er würde sich seinen Herzenswunsch erfüllen, sie zu essen.«
»Okay, das wäre eine Möglichkeit. Warum könnte er es sonst noch tun?«, fragte Montgomery.
»Denkbar ist weiterhin, dass er eine schizophrene Episode erlitten hat und sich in Richtung Kindheit zurückentwickelt. Er flüchtet sich in eine Zeit, in der alles einfacher und sicherer zu sein schien. An einen Ort, an dem er sich sicher fühlte. Ein solches Verhalten wäre für Serientäter nicht ungewöhnlich. Ich würde an Ihrer Stelle die Leute warnen, die in dem Haus wohnen, in dem er aufgewachsen ist. Wenn er dort nicht wie erwartet seine Mutter und seinen Vater vorfindet, könnte es zu einem Blutbad kommen.«
»Wir haben bereits Kontakt zu der Familie aufgenommen und lassen das Gebäude rund um die Uhr observieren«, erwiderte Detective Volario.
»Tja, ich fürchte, mehr kann ich nicht für Sie tun.«
»Was ist mit seiner Virustheorie? Könnte er nach Seattle gehen, um nach einer Heilung zu suchen? Gibt es dort eine Klinik oder eine ähnliche Einrichtung, an die er sich wenden kann?«, hakte Detective Montgomery nach. Seine Augen wirkten verkniffen und misstrauisch, als verdächtigte er den Professor, etwas zu verschweigen.
»Wenn er wirklich diesen Mann in Oregon gebraten und gegessen hat, kann man getrost davon ausgehen, dass er nicht an einer Heilung interessiert ist.«
Professor Locke hoffte natürlich, dass diese Vermutung nicht stimmte, aber seine Antwort schien die Polizisten zufriedenzustellen.
»Okay, Doc, wenn Ihnen noch etwas einfällt – wir sind in der Nähe.«
»Hier in der Nähe?«
»Yeah, für den Fall, dass er wieder auftaucht.«
»Aber Sie sagten doch, er halte sich in Washington auf?«
»Nein, Sie sagten, er werde vermutlich nach Washington gehen. Wir hegen lediglich den begründeten Verdacht, dass er sich vor Kurzem in Oregon aufhielt und dort einen Mann tötete, den er in dieser Gegend entführt haben könnte. Sicher ist das aber nicht. Eventuell hat er lediglich einen Campingausflug unternommen und ist dann wieder hierher zurückgekommen. Wir haben die Kollegen in Washington und Oregon alarmiert. Falls die ihn schnappen, werden wir hinfahren, um ihn einzukassieren. Bis dahin bleiben wir, wo wir sind.«
Die Beamten lächelten nicht, als sie sich von Professor Locke verabschiedeten. Sie tuschelten miteinander und warfen ihm ständig Blicke über die Schulter zu, als sie den Hörsaal über den Mittelgang verließen. Locke ging davon aus, dass er heute Abend auf dem
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