Schärfentiefe
jenem schrillen Schrei, den eine der Damen ausstieß.
„Da, da … a Leich!“, stammelte sie und deutete mit dem Zeigefinger nach draußen. Was folgte, war der Alptraum jedes Veranstaltungsorganisators: Die Gäste liefen hektisch zu den Fenstern, versuchten die Rollläden hochzuziehen, rissen dabei einige der Beleuchtungskörper herunter; drängelten sich, stießen Gläser um, blieben an Tischdecken hängen. Teller fielen zu Boden, Essensreste lagen verstreut herum.
Das Personal war um Beruhigung bemüht, aber es zeigte auch keine Wirkung, als der Techniker dem Festredner erneut das Mikrofon in die Hand drückte und dieser die Gäste um Ruhe bat.
„Ja, da hängt eine Wasserleiche raus …“, bestätigte ein entsetzter Gast. In der Tat hing ein Bein aus dem Container.
„Eindeutig ein Tiefschwimmer“, stellte einer der Anwesenden lakonisch fest und klärte dann alle auf, ob sie es nun wissen wollten oder nicht: „Tiefschwimmer sind frische Wasserleichen. Leichen, die bereits auf der Oberfläche schwimmen, waren längere Zeit im Wasser. Sie sind schon mit Gasen gefüllt, aufgequollen und kein schöner Anblick. Das Bein, das da heraushängt, wäre dann am Platzen.“
Eine Dame hielt sich eine Serviette vor den Mund und eilte würgend in Richtung Toiletten.
Den delikaten Häppchen des Buffets wurde keine Beachtung mehr geschenkt, die Gläser standen oder lagen auf den Tischen verstreut. Die Rotweinflecken würden nie mehr aus den weißen Tischdecken zu entfernen sein, ebenso wenig wie die Wachsflecken der Kerzen, die unbeachtet niederbrannten.
Als der erste Gast auf die Idee kam, zum Container zu gehen und den mittlerweile eingelangten Feuerwehrmännern und Polizisten bei der Arbeit zuzusehen, schlossen sich auch alle anderen an. Die Kellner standen hilflos mit den vollen Tabletts herum, während die Leute an ihnen vorbeiströmten.
Der Eventmanager hatte akzeptiert, dass diese Veranstaltung nicht mehr zu retten war. Er nahm sich ein zweites Glas Sekt, stopfte sich ein Lachsbrötchen in den Mund und lehnte sich an die gegenüberliegende Wand. Er verfluchte den Umstand, dass einer der Rollläden während der Veranstaltung offen gewesen war.
Dem ersten Funkwagen waren weitere gefolgt, dann traf die polizeiliche Kommission ein, die sich aus einem Kriminalbeamten, einem Juristen und einem Amtsarzt zusammensetzte. Die Identität des Toten war rasch geklärt, er trug seinen Personalausweis bei sich, der auf den Namen Stefan Urban lautete. Der Arzt untersuchte die Leiche und da keinerlei Hinweise auf Fremdverschulden feststellbar waren, entschied die Kommission, dass es sich in diesem Fall um Unfall oder Selbstmord handelte und ordnete statt der gerichtsmedizinischen Obduktionnur eine sanitätspolizeiliche Untersuchung an. Die Gäste der Veranstaltung hatten sich zu kleinen Grüppchen zusammengetan und beobachteten in angemessener Entfernung die Arbeit der Polizisten. Es war bei Weitem nicht so spektakulär, wie sie das aus dem Fernsehen kannten. Der Tatort wurde weder mit rot-weißen Absperrbändern gesichert, noch trat die Tatortgruppe in Aktion, jene Experten in den weißen Overalls, die sich unter anderem um allfällige DNA-Spuren kümmerten. Auch von Presseleuten war weit und breit nichts zu sehen. Für die paar Zeilen, die man, wenn überhaupt, einem in der Donau Ertrunkenen in den Tageszeitungen widmen würde, genügte es, die Aussendung der Polizei zu lesen. Als der Leichnam vom Leichenabholdienst übernommen und weggebracht wurde, verließen die letzten neugierigen Zuschauer ihre feuchtkalten Aussichtsplätze und fuhren nach Hause. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, um wen es sich bei dem Toten handelte und dass sich die Redensart „Irren ist menschlich“ einmal mehr bewahrheiten sollte.
Eins
1.
„Hast du das schon gelesen?“ Ada Klamm kam mit der Montagszeitung ins Büro von Karl Santo, ihrem Chef in der PR-Agentur, und legte diese aufgeschlagen auf seinen Schreibtisch.
In der Nacht auf Sonntag wurde beim Flusskraftwerk Freudenau die Leiche eines Mannes geborgen. Bei dem Verunglückten handelt es sich, laut Auskunft der Polizei, um Stefan Urban (69), den international anerkannten Fotografen und Professor am Institut für künstlerische Fotografie in Wien. Es wurden keine Anzeichen von Fremdeinwirkung festgestellt.
„Interessant. Das ist doch der Fotograf …“, hob Santo an.
„… für den wir im Rahmen des internationalen EDV-Kongresses eine Fotoausstellung im MuseumsQuartier ausrichten
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