Schärfentiefe
Das Telefon läutete.
Sollte das die nächste Absage sein, würde sie ihre Koffer packen und Freunde in Süditalien besuchen.
„Hier spricht Ada Klamm. Spreche ich mit Paula Ender?“
Klamm, Klamm? Wer zum Teufel war Ada Klamm?
„Direktor Santo bat mich, Sie anzurufen und mit Ihnen einen Termin zu vereinbaren. Er hat einen Vorschlag für ein gemeinsames Projekt, das Sie vielleicht interessieren könnte.“
„Das wäre?“ Paula stand den Vorschlägen Santos, so sehr sie ihn auch mochte, immer erst einmal skeptisch gegenüber.
„Wir arbeiten an einem großen Veranstaltungsprojekt mit Empfang, Fotoausstellung, Vortragsreihen, Rahmenprogramm und so weiter. Jetzt haben wir zusätzlich den Auftrag für eine Biografie erhalten, haben aber niemanden im Haus, der noch Zeitkapazitäten frei hätte, um sie zu schreiben. Direktor Santo lässt daher fragen, ob Sie vielleicht Interesse hätten, uns bei den Recherchen und Texten zu unterstützen.“
Das war wieder typisch Santo. So umgänglich er als Chef war, im Grunde waren seine Mitarbeiter Leibeigene: Er erwartete von jedem, der für ihn arbeitete, dass er selbstverständlich seine Seele mit einbrachte. Bevor er jemanden neu ins Team aufnahm, mussten die Seelenlosen ihre Zeitreserven bis aufs Letzte ausreizen. Kein Wunder, dass alle in der Agentur Singles waren, beziehungsweise im Laufe der Tätigkeit zu solchen wurden.
Es war aber auch genauso typisch für ihn, dass er zielsicher wusste, mit welchen Projekten er sie ködern konnte. In der Agentur arbeiteten alle mit Begeisterung für ihn, die Fluktuation war gering – trotz der teils chaotischen Zustände. Auch Paula hatte lange gebraucht, um sich aus seinen Fängen zu befreien.
„Um wessen Biografie handelt es sich?“, fragte sie vorsichtig.
„Wahrscheinlich haben Sie es heute schon in der Zeitung gelesen. Der bekannte Fotograf Stefan Urban ist gestorben, undda er nun nicht im Sommer an der Fotoausstellung zu seinen Ehren teilnehmen kann, möchten die Veranstalter sein Leben in Buchform präsentieren. Könnten Sie dieses Projekt übernehmen? Direktor Santo bat mich, Sie darauf hinzuweisen, dass es keinen Zeitdruck gebe und das Honorar sehr interessant sei.“
Paula musste grinsen. Seit sie Santo kannte, gab es nichts, was für ihn unmöglich war, nichts, was er nicht erreichte. Die Einzige, bei der er sich nicht durchsetzen konnte, war seine Ehefrau, die die häuslichen Zügel fest in der Hand hielt.
So sehr Paula auch grübelte und einen Grund suchte, der gegen dieses Projekt sprach, sie fand keinen. Im Gegenteil: Der Zeitpunkt war ideal, und auch das Angebot klang interessant. Sie hatte schon mehrere Biografien geschrieben und es immer genossen, in das Leben eines Menschen einzutauchen, mit Zeitzeugen zu sprechen, Anekdoten und Hintergründe zu recherchieren. Kurz entschlossen sagte sie zu.
Sie hörte das Aufatmen am anderen Ende der Leitung.
„Das ist großartig. Vielen Dank. Ich werde Santo gleich Bescheid geben. Wann können wir die Details besprechen?“
„Wenn es bei Ihnen passt, komme ich am Mittwoch gegen elf Uhr in die Agentur. Wie hieß der Fotograf noch mal?“
„Stefan Urban.“
Das Ziel, Romanautorin zu werden, musste warten, die wenigen Seiten würden wohl noch eine Weile in der Schublade ausharren müssen, denn die folgenden Monate zeichneten sich nun, von einem Moment zum anderen, als sehr arbeitsintensiv ab.
Paula war zufrieden. Das könnte ein sehr interessantes Projekt werden. Eine völlig andere Tätigkeit als Seminare zu organisieren und durchzuführen, eine gute Ergänzung, interessant und harmlos.
Glücklicherweise ahnte Paula zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was alles auf sie zukommen würde.
3.
Sie hörte, wie die Wohnungstür aufgesperrt wurde.
„Du bist da? Ich dachte, du hättest heute ein Seminar in der Rechtsanwaltskanzlei?“
Es war Kurt, ihr Mitbewohner. Draußen musste es eisig kalt sein, denn Kurt trug einen dicken beigefarbenen Daunenanorak.
Vor einigen Monaten hatte sie beschlossen, ihr ehemaliges Büro ins Wohnzimmer zu verlegen und einige Euro zusätzlich einzunehmen, indem sie den frei gewordenen Raum an eine Studentin vermietete. Die Lage in der Nähe der Hauptuniversität war ideal, und schließlich bot sie neben Küche und Bad auch das Wohnzimmer zur gemeinsamen Nutzung an. Ihr blieb noch immer ein etwa fünfundzwanzig Quadratmeter großer Raum für ihr Privatleben. Es war dann aber doch keine Studentin, die bei ihr einzog, sondern ein Jusstudent,
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