Schalck-Golodkowski: Der Mann, der die DDR retten wollte (German Edition)
zwingender waren als die Ablehnung von Faschismus und Völkermord und deren kollektive Beendigung.
Schließlich der andere gravierende Einschnitt 1952: Alexander Schalck-Golodkowski, ausgebildeter Mess-und Regeltechniker, beginnt mit 20 Jahren im Ministerium für Außen-und Innerdeutschen Handel zu arbeiten.
Zwischen beiden Ereignissen besteht kein direkter, wohl aber ein kausaler Zusammenhang: Alle Zeichen stehen auf Aufbruch.
Der Jugend Vertrauen und Verantwortung heißt nicht nur die Parole, sondern es ist auch Praxis. Schalck, der Sachbearbeiter, wird im Ministerium Sekretär einer FDJ-Grundorganisation mit 80 Jugendlichen, schließt sich nach dem 17. Juni 1953 aus Überzeugung den Kampfgruppen an, weil er die Revolte als Angriff auf die herrschenden Verhältnisse versteht, übernimmt mit 21 Jahren die Leitung des Bereichs Werkzeugmaschinen, Werkzeuge und Metallwaren in der Hauptabteilung Maschinenbau im Ministerium und fährt schließlich zu seiner ersten Auslandsmesse: vier Wochen Utrecht.
Bei dieser Gelegenheit erlebt der Nachwuchskader Vorgänge, die ihn prägen sollen für den Rest seines Lebens. Er erfährt politisch-ideologisch motivierte Ungerechtigkeit an der eigenen Person. Man muss ihm nun nicht mehr erklären, was Klassenkampf zwischen den Systemen heißt. Vom vermeintlichen Wettstreit der Systeme, was sportiv und fair klingt, spürt der aktive Freizeitringer wenig. Da herrschen Ausgrenzung, Demütigung und Diffamierung.
Für die Messe in den Niederlanden braucht er nämlich ein Visum zur Ausreise und eines für die Einreise.
Die DDR ist ein selbständiger Staat, doch als ein solcher wird er westlich des Harzes nicht anerkannt. Die Bundesrepublik Deutschland reklamiert, für alle Deutschen zu sprechen, auch für die Ostdeutschen, die in der »Zone« leben. Das ist
terre irredente
für die Adenauer-Regierung in Bonn, unerlöste Gebiete, deren Bürger vorgeblich den Anschluss ans Mutterland, die Bundesrepublik, suchen. Die mit der BRD verbündeten Staaten schließen sich dieser Lesart an. Zwar kann man den ostdeutschen Staatsdienern, Wissenschaftlern, Künstlern, Technikern, Sportlern etc. das Reisen nicht grundsätzlich verbieten, aber ihre Pässe akzeptiert man nicht. Ersatzweise müssen sie im
Allied Travel Board
– einer von den Besatzungsmächten USA, Großbritannien und Frankreich in Westberlin eingerichteten Behörde – befristete Reisedokumente beantragen.
Das klingt harmloser, als es ist. Der Antrag wird mit der Beantwortung zahlreicher Fragen verknüpft, woraus mehr als nur der Anlass der Reise abgeleitet werden kann. (Man ahnt den geheimdienstlichen Hintergrund.) Bereits der kleinste Verdacht einer politisch motivierten Reise genügt, um die Papiere zu verweigern.
Das Travel Board ist ein sehr wirksames Instrument des Kalten Krieges, das nicht nur die angebliche Verbreitung kommunistischer Ideologie verhindert, sondern auch wirtschaftlich der DDR schadet. Die DDR exportiert beispielsweise Werkzeugmaschinen, wozu – wie international üblich – auch Wartungs-und Betreuungsleistungen gehören. Wenn etwa eine Maschine ausfällt, reist umgehend ein Techniker an, um sie wieder zum Laufen zu bringen. Doch auch technische Servicekräfte müssen beim Travel Board um Reisepapiere nachsuchen. Die »Prüfung« solcher Anträge dauert mitunter Wochen – unterdessen steht die Anlage im Ausland still. So verlieren Maschinenexportbetriebe der DDR – und das erlebt Schalck unmittelbar, es ist schließlich sein Bereich – stetig Kunden im westlichen Ausland.
Das Allied Travel Board wird seine diskriminierende Tätigkeit nahezu zeitgleich erst mit Aufhebung der Hallstein-Doktrin einstellen. Das ist Ende der 60er Jahre, als die sozialliberale Regierung unter Kanzler Willy Brandt ihre neue Ostpolitik startet. Die in Rede stehende Doktrin, benannt nach dem Staatssekretär im Auswärtigen Amt Walter Hallstein, fußt auf dem Alleinvertretungsanspruch Bonns und droht Drittstaaten politische und wirtschaftliche Sanktionen an, sofern diese die DDR anerkennen und intensive politische und wirtschaftliche Beziehungen pflegen. Die Hallstein-Doktrin verfolgt unverhüllt die Absicht, die DDR außenpolitisch zu isolieren und wirtschaftlich zu schädigen. Politik und Wirtschaft sind in den westlichen Staaten sichtbar miteinander verknüpft.
Schalck, ein ausgeschlafener Berliner Junge, der Zusammenhänge rasch erfasst, und, sofern er nicht selbst auf den Trichter kommt, assistiert von erfahrenen Genossen,
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