Schalmeienklänge
ballten.
Vorsichtig und ohne jemals ein Auge vom Gesicht des Königs zu wenden, legte Leonore ihren Sohn auf den Läufer zurück. Sie ließ sich sogar einen Augenblick Zeit, zu überprüfen, daß die winzige Hand des Jungen nicht zu dessen Unbequemlichkeit unter seinen Körper geklemmt lag, und wieder sah ich sie in jenem Augenblick in meiner Zelle vor mir, als sie ihren schwangeren Leib umfaßt und zu mir gesagt hatte: »Mein Sohn muß König werden.«
Rofdal setzte sich langsam in ihre Richtung in Bewegung und gab ihr ausreichend Zeit. »Bleib stehen!« warnte sie ihn, hob die Weißen Schalmeien an die Lippen und blies.
Nichts geschah, außer den Auswirkungen, die der Klang auf mein Inneres hatte.
Die Musik ertönte, gewöhnliche Schalmeienmusik, vielleicht besser als gewöhnlich. Während der Musik hatte der Mann die Frau gepackt, und etwas fiel klappernd zu Boden. Aber wer der Mann, wer die Frau und welches ihre Geschichte war, hätte ich nicht sagen können. Ich konnte mich nicht erinnern. Ich wußte nicht, wer sie waren oder warum sie kämpften oder warum ich an dieser Stelle stand und sinnlose Geschehnisse namenloser Leute beobachtete. Die Frau schrie. Der Mann zerrte sie aus diesem kleinen Zimmer ins angrenzende, wo Waffen herumlagen. Dort beugte er sie an ihrem langen Haar nach hinten, ergriff einen Dolch und durchschnitt ihr die Kehle.
Blut sprudelte in gewaltigem Schwall von ihrer Kehle und ergoß sich über Mann und Fußboden. Er ließ die Frau sinken und polterte an mir vorüber in den kleinen Raum dahinter. Warum, wußte ich nicht mehr. Er hob einen Gegenstand vom Boden auf und schüttelte ihn vor meinen Augen. Einen weißen Gegenstand, für den es in meinem Bewußtsein keinen Namen gab.
»Nimm sie, zum Teufel! Nimm sie!«
Ich nahm das Ding entgegen. Es fühlte sich heiß an. Der Mann brüllte vor Wut und stieß mich auf die Knie hinab. Aus dem kalten Kamin riß er mit äußerster Kraft einen Ziegelstein. Auf seiner Stirn traten Adern hervor, sein Gesicht lief purpurrot an, seine Armsehnen spannten sich, und er brüllte noch immer. Der Ziegelstein löste sich, und er streckte ihn mir hin.
»Zerschlag es. Zerschlag das widerliche Ding!«
Ein Baby weinte mit hoher, furchtsamer Stimme. Zum Klang seines Geschreis schmetterte ich den Backstein auf den weißen Gegenstand. Er zersprang in vier Teile, was den Mann noch mehr zu reizen schien. Ich schaute ihn fragend an.
»Weiter! Weiter!«
Ich schlug auf das Ding, und als es in immer kleinere Scherben zersprang, erinnerte ich mich, daß es die Weißen Schalmeien und der König waren. Der König starrte mich mit grausamer Wut an; ich schlug mit voller Kraft immer wieder zu. Weißer Staub spritzte nach oben, und als die Körnchen mein Gesicht trafen, brannten sie wie Funken.
Als die Weißen Schalmeien zu Pulver zermalen waren und ich meinen Arm nicht mehr heben konnte, sank ich gegen die Wand und schluchzte.
»Dir wird nichts geschehen«, stieß Rofdal heftig zwischen den Zähnen hervor. »Du hast nur die Wahrheit gesagt. Was ist das für ein Lärm?«
Ich dachte, er meinte das Baby. Doch dann erklangen über dem hohen Kinderweinen gedämpfte Schreie und das Klappern von Stahl aus den Schloßhöfen weit unten. »Die Armee der Königin«, sagte ich erschöpft. »Sie ist aus ihrem Versteck im Wald aufgetaucht. Sie greift die Eure an.«
»Der Königin…« Seine Augen stieben Funken, und sein gesamter gewaltiger Körper bebte vor Zorn. Ich hörte, wie er sich Helm und Schwert schnappte und in den Gang stürzte, als das Getöse der blutigen Schlacht näher rückte. Aber viel näher würde es nicht kommen. Eallows Männer… Leonores Männer… meine Männer waren in der Minderzahl, wie mir längst klar war. Gegen Abend gäbe es niemanden mehr in Schloß und Wald, der die Bewußtseinskünste beherrschte.
Außer Brant und mir.
Das Baby weinte immer noch. Ich kroch zu der Ecke, wo es lag, und rutschte dabei auf Knien durch das Pulver, das von den Weißen Schalmeien geblieben war. Die Schalmeien würden in kein Bewußtsein mehr eindringen, keine Seelen mehr erjagen – so wie sie Ards und fast auch meine in die Gewalt bekommen hatten. Keiner all derer, die so verzweifelt die Schalmeien gesucht hatten, weder Brant noch Leonore hatten vorausgesehen, wessen Seele wirklich behext werden würde: nicht die der Benutzten, sondern die der Benutzer. Im Augenblick verabscheute ich sie beide, meine Feindin und meinen Beschützer, um der Gefahr willen, in die ich im
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