Schalmeienklänge
darauf, daß bei allen Seelen, die ich erbeutete, ich die Rofdals niemals angerührt hatte.
Er beobachtete mich. Mit unendlicher Vorsicht legte ich den Prinzen auf einen kleinen Teppich möglichst weit von den Leichen entfernt. Dann nahm ich ein Messer von einem kleinen Tisch und durchtrennte die Fesseln des Königs.
Sogleich erhob er sich: riesenhaft, sich über mir abzeichnend in halber Rüstung. Ich wollte davonlaufen, um die Schalmeien zu blasen, um irgend etwas zu tun, das wieder seine Handlungsfreiheit einschränkte. Er stand da, rieb sich die Handgelenke, und wir starrten einander quer durch die Kapelle an. Dann streckte er wortlos die Hand nach den Weißen Schalmeien aus.
»Euer Gnaden…«, flüsterte ich.
Er streckte die Hand aus.
Ich sagte: »Ich werde sie Euch geben. Aber eines zuerst, nur noch eines. Eine Geschichte. Meine letzte Bitte, weil ich anschließend nichts mehr tun kann. Eine Geschichte, die Ihr und ich gemeinsam spielen. Haltet die Schalmeien, als hättet Ihr sie soeben geblasen, und ich werde die Fesseln der Königin durchschneiden, als stände ich unter dem Zauber… und Ihr werdet sehen, was sie macht. Euer Gnaden, Wahrheit enthüllt sich manchmal nur über Lügen. Auf diese Weise werdet Ihr erfahren…«
»Gebt mir die Schalmeien«, befahl Rofdal.
Und ich gehorchte.
In der Sekunde, da seine riesige Hand sich darum schloß, glaubte ich, ich hätte unser aller Tod herbeigeführt: Brants, Jorrys und den meinen. Geschunden, nackt, mit nach unten hängenden Köpfen, geschwärzt und stinkend – das Ende aller Geschichten, aller Lieder. Ich fühlte das alles jetzt schon, mir wurde schwarz vor Augen, und mir stockte der Atem, daß ich wieder nach den Schalmeien gegriffen hätte, würde Rofdal mich nicht bei der Schulter gepackt haben.
»Durchschneide die Fesseln der Königin. Auf der Stelle.«
Ich hatte immer noch das Messer in der Hand. Ich nahm es mit mir, durchquerte so natürlich, wie ich konnte, Ankleideraum und Schlafzimmer bis zu dem Vorzimmer, wo Leonore zu Füßen der Wachsoldaten lag, die sie herausgetragen hatten. Ich behielt ein ausdrucksloses Gesicht und leeren Blick. Als ich mit dem Messer in der Hand über Leonore stehenblieb, machte sie die Augen zu, doch als sie spürte, wie ihre Fesseln sich lösten, schlug sie die dunklen Augen auf, und verzweifelte Berechnung ließ ihr Gesicht wieder zu Leben erwachen. Es bedurfte keiner Bewußtseinskünste, ihre Gedanken zu durchschauen: Noch ist nicht alles verloren, noch ist nicht alles verloren.
Hätte sie mir das Messer entwendet, hätte ich meine Rolle nicht weiterspielen können. Aber das tat sie nicht.
Mit leiser Stimme befahl sie: »Knie nieder!«
Ich kniete nieder.
»Steh auf.«
Ich erhob mich.
»Erzähl mir, was du getan hast.«
Ich berichtete: »Ich habe die Fesseln des Königs gelöst. Er hat ganz leise die Schalmeien geblasen.«
»Rofdal?« fragte sie, und ich sah, wie ungläubig ihre Mundwinkel erheitert zuckten. Der König ein Seelenjäger! Irgendeiner perversen Ader in ihr machte das selbst jetzt in der Gefahr Freude, und ich dachte unwillkürlich: Sie ist tapferer als ich.
»Bleib hier«, sagte sie. Sie huschte so schnell zur Kapelle, daß ihr Kleid am Boden raschelte. Als sie das Ankleidezimmer durchquert hatte, folgte ich ihr im Schutz einer Steinmauer.
Wieviel Zeit hatte ich noch?
»Rofwold!« schrie Leonore, und ich hätte meinen Kopf darauf verwettet, daß ihre mütterliche Sorge echt war. »Ist er verletzt?«
»Nein«, antwortete Rofdal.
»Den Vier Schutzgöttern sei Dank!« Lautes Rascheln von Seide, das Quäken eines Babys. »Mylord, ich hatte solche Angst!«
»Vor mir?«
»Vor der Seelenjägerin!« erklärte Leonore mit einem Schaudern. »Ich flehe Euch an, Mylord, laßt die Hände von dieser schmutzigen Blasphemie! Oh, legt sie fort!«
Wieder stand ich vor der Sonnenliegehalle und lauschte den körperlosen Stimmen von Brant und Cynda, die in ihre tödliche Geschichte verstrickt waren, nur, daß damals sie die Jägerin und er das Wild gewesen war.
»Nein. Das werde ich nicht«, erklärte Rofdal. Ich hörte ein leises Klappern, als wäre ein Gegenstand auf den Tisch gelegt worden, und bog um die Ecke.
Leonore schnappte die Schalmeien und rannte mit dem Kind auf einem Arm quer durchs Zimmer. »Kommt mir nicht näher, Mylord. Ihr werdet es bedauern. Nun habe ich Euch in der Gewalt.«
Rofdal beobachtete sie, wobei sein Gesicht sich verfinsterte und seine Fäuste sich an seinen Seiten
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