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Schalmeienklänge

Schalmeienklänge

Titel: Schalmeienklänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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mich im Schwertkampf und in Mathematik unterrichtet. Und das ist Frau Tiennen, die uns so gut umsorgt.«
    Die uns so gut umsorgt. Schwertkampf und Mathematik. Und das von einem Kind, das sein Leben lang am Boden geschlafen und sich unter Dienstboten bewegt hatte.
    Frau Tiennen machte eine nervöse Verbeugung. Sie war untersetzt, von mittlerem Alter, mit breitem Gesicht, freundlichen Augen und der sorgenvollen Miene derer, die beflissen sind, zu gefallen.
    »Schau mal!« meinte Jorry und fuchtelte mir mit seinem kleinen Schwert vor der Nase herum. »Ich bekomme jeden Tag Unterricht.
    Guck, das Ende ist stumpf zum Üben.« Das Schwert war ausgewogen, seiner Körpergröße angepaßt und blitzte im letzten Sonnenlicht, und Jorrys Augen darüber blitzten ebenfalls.
    »Es ist… sehr hübsch.«
    »Morgen kannst du mir beim Unterricht zusehen! Bist du mit all deinen wichtigen Arbeiten fertig, Mutter?«
    »Ja«, antwortete ich. »Ja. Das bin ich. Ja.«
    »Ich habe sogar ein Pferd. Kein Pony, ein Pferd. Natürlich habe ich auch noch Slipper, aber mein Pferd ist kräftiger. Komm, schau es dir an!«
    Ich ging mit ihm. Ich besah mir das Pferd und die Bücher zum Studium alter Sprachen, sein Zimmer mit den glatten Holzwänden und den Eichendielen und seidenen Vorhängen rund um sein Bett. Auf dem Boden lagen Holzsoldaten und eine geschnitzte Flöte. Ich hob sie auf und drehte sie in meinen Händen.
    Jorry nahm sie mir ab und begann zu spielen. Die Melodie war so einfach und lieblich, wie Anfänger sie lernen. Mein Sohn spielte sie gut. Es lag Schönheit in der Melodie und feines Geschick in seiner Art, sie dem Instrument zu entlocken. Ich lauschte wie versteinert.
    »Mutter… du hast mir so gefehlt«, wiederholte er, streckte wieder die Arme nach mir aus, und meine schlangen sich um seinen kräftigen Körper und Brants wertvolle Seiden, und ich spürte, wie sein kleines, blitzendes Schwert gegen meinen Schenkel stieß.
     
    *
     
    In den folgenden Tagen ließ ich Jorry nicht aus den Augen, und Pritar und Jantro ließen uns niemals aus den ihren. Beide Männer, aber besonders Jantro, nahmen unter ihrer höflichen Ergebenheit eine abwartende Haltung ein. Ich wußte, worauf sie warteten. Sie warteten darauf, daß ich Einwände erhöbe: gegen ihre unaufdringliche Überwachung, gegen Jorrys Seiden- und Samtkleidung, gegen seine Schwertausbildung, gegen den Unterricht in Sprachen, Mathematik, Reitkunst, Bogenschießen – all die Fähigkeiten, die dem Sohn eines Edelmannes beigebracht werden. Ich machte keine Einwände. Derjenige, bei dem ich meine Einwände vorbringen würde, der Verantwortliche, war noch nicht da. Und bis er käme, würde ich nicht wissen, was ich sagen mußte.
    Tag für Tag saß ich auf der Steinmauer und sah zu, wie Jorry sein Pferd die verschiedenen Gangarten ausführen ließ, und die Welt verlor ihre edelsteinfunkelnde Sommerpracht und nahm langsam eine andere Schönheit in Gelb und Gold an. Jorrys Gesicht glühte. Oft wandte er dieses verzückte und vor Erschöpfung und Freude errötete Gesicht, um sich zu vergewissern, daß ich zuschaute. Er tat es seltener durch Zuruf. Und einmal, als ich in dunkle Erinnerungen versunken war, rief er Jantro ein herrisches »Halt!« zu, stieg ab, kam auf mich zugeschritten und schlang die in dem lächerlichen Seidenstoff verschwitzten Arme um meinen Hals.
    »Ich bin da, Jorry.«
    »Ja«, sagte er und war sogleich wieder fort, lief auf sein Pferd zu und ließ sich von Jantro in den Sattel werfen.
    Oft aßen wir mittags draußen unter den hohen Bäumen, nur wir beide, wobei Jorry gierig Tiennens wohlschmeckende Fleischpasteten und warme Brote verschlang und mir alles schmeckte, als hätte ich Watte im Mund.
    »Mutter, ist dir schlecht?«
    »Nein, Jorry, mir geht es gut.«
    Er betrachtete mich mit sorgenvollem Blick, und das Herz tat mir weh, daß ich nicht fähig war, meine düsteren Gedanken vor ihm zu verbergen, an denen er keine Schuld trug und deren Ursache er doch war.
    »Du siehst… traurig aus«, erklärte er. Und dann vergrub er in einem kindlichen Ausbruch seinen Kopf in meinem Schoß. »Sei nicht traurig! Ich mag nicht, wenn du traurig bist. Ich wünschte, ich könnte dir helfen, Mutter!«
    »Das tust du doch«, versetzte ich und hoffte verzweifelt, daß er trotz seiner neu errungenen Reife zu jung war, die Lüge herauszuhören.
    Er konnte mir nicht helfen. Ich hatte entdeckt, daß selbst er, Jorry, zu der anderen, großen Geschichte gehörte, wo die Zeit im steten

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