Schalmeienklänge
gesehen haben? Oder haben sie gar keine Geschichte?«
Ich schwieg. Schließlich sagte ich: »Sie haben schon Geschichten.«
»Da, hört ihr?« ließ sich einer vernehmen. »Veliano ist nicht so fade, wie wir dachten. Sie haben sogar Geschichten.«
Nishel fragte: »Aber keine, die du spielen möchtest?«
»Nein«, antwortete ich. »Keine, die ich spielen möchte. Ich sagte euch schon, ich spiele keine Geschichten mehr.«
»Wovon willst du denn leben?« erkundigte sich Aralet gleichermaßen neugierig und liebevoll. Darauf wußte ich ihr keine Antwort zu geben. So verschmitzt ihre Frage war, schien sie aus großer Ferne, aus einem anderen Land zu kommen.
Bald darauf verließ ich den Gasthof und bahnte mir den Weg durch die Finsternis zu dem kleinen Zelt, das man mir zur Verfügung gestellt hatte. Die Nacht war mondlos, nur die Sterne funkelten hell und hier in den Bergen greller und kälter als in den Städten, und die Feuer der Karawanenbediensteten, Reisenden, Edelsteinwächter und Mitziehenden sprenkelten das Feld. Ringsumher flogen mir Liedstücke zu, Gesprächsfetzen, Worte einer Liebelei, das Klappern von Würfeln. Das alles war mir vertraut – so hatte ich in den letzten zehn Jahren jeden Sommer gelebt – alles bis auf die Gestalten, die ich jenseits des letzten Feuers zu sehen glaubte. Eine Hundertschaft Soldaten mit blutigen Köpfen und Brüsten und unter ihnen die Königin. Ich drehte ruckartig den Kopf, und aus den Figuren wurde ein Hain kleiner Bäume, die sich schweigend in den Himmel reckten.
Würde ich sie mein Leben lang vor mir sehen?
Der Verstand sagte mir nein. Der Verstand sagte mir, daß die wilden Ereignisse wilde Phantasien hervorriefen, aber daß beides mit der Zeit nachließe. Mit der Zeit würde ich die lebenden Figuren, die ich verloren hatte, wiederfinden und die Toten verlieren, die ich hinter dem Feuerschein sah. Sie existierten nicht mehr. Ich hatte sie alle umgebracht. Nur ich und Brant blieben übrig, ihre Geschichte zu erzählen.
Eines der Feuer der Edelsteinwächter brannte nicht weit von meiner aufgeschlagenen Zeltklappe; es erhellte das Zeltinnere mit schwachem, rötlichem Schein. In seinem Licht zog ich die Erste und Zweite Phiole aus meiner Bluse.
Die Zweite enthielt die wohltuende und starke Geschichtenspielerdroge von Brant. Ich trank die Erste und wartete.
Vielleicht hellte sich der Feuerschein ein wenig auf. Vielleicht wurde das trunkene Lied von einem entfernten Lagerfeuer ein wenig lieblicher, ein wenig melodiöser und zeitloser. Aber wenn ja, so war die Veränderung gering. Meine Finger spannten sich um die Zweite Phiole. Ich trank sie aus und spreizte meine Hände auf den Zeltboden.
Der pinkfarbene Nebel zog auf, strudelte und strudelte immer weiter. Nichts bildete sich in seinem Innern.
Ich dachte an die Geschichte von T’Nig. Mühsam stellte ich mir innerlich den grundlosen See, den unfällbaren Baum und den gesamten Rest der absurden, mitreißenden Sage vor, in der der Sieg so mühelos, die Helden so zweifelsfrei schienen und der Tod so wenig Leiden hervorrief. Ich stellte mir jeden Vorgang, jeden Umriß, jede Farbe vor. Nichts entstand zwischen meinen Handflächen.
Als nächstes versuchte ich es mit einer anderen Erzählung, einer schlichten Geschichte, wie ich sie auf Märkten und Sommerkirmessen vorführte, eine, die ich schon seit Mutter Arcoas Zeiten kannte. Im Nebel formte sich nichts.
Schließlich gab ich die Hoffnung auf und dachte an Leonore und Rofdal und die Rufe und Schreie aus dem Schloßhof, während der König sein verräterisches Weib bei den Haaren packte und ihren Körper nach hinten beugte, um ihre Kehle zu entblößen. Doch die Gestalten, die mein Denken so mühelos aus einem ruhigen Hain von Schößlingen geschaffen hatte, wollten sich nicht zwischen meinen Händen bilden. Der Nebel blieb rosig und formlos.
Ich faltete die Hände zusammen.
Ich glaube, ich hatte es bereits vor diesem fehlgeschlagenen Versuch vermutet. Die Weißen Schalmeien hatten etwas in mir zerstört, hatten durch ihre heftige Freude eine zarte, zerbrechliche Schicht vernichtet oder vielleicht unwiderruflich mit einer anderen, derberen verschmolzen, und ich vermochte nicht länger die einfachen Bilder von tapferen Prinzen, komischen Bettelweibern, prachtvollen Damen und treuen Rittern zu entwerfen. Vielleicht lag es auch überhaupt nicht an den Schalmeien, sondern am Wesen der Geschichten, die von uns, Brant, Leonore und mir, in Veliano geschaffen worden waren.
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