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Schalmeienklänge

Schalmeienklänge

Titel: Schalmeienklänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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jemals angewandt hast… ja, genau das…«
    Unter ihren Händen sah ich mich selbst auf einem Marmorboden stehen und eine Geschichte spielen. Ich erinnerte mich an die Gelegenheit: Es war im Hause eines bedeutenden Kaufmannes in Perle, der östlichsten der Silberstädte. Ich war stolz auf mich gewesen, weil ich die ganze Geschichte von der Prinzessin und dem Vogel mit allen sieben Szenen, zwei mehr als jemals zuvor, dargeboten hatte. Und auch mehr als jemals hernach. Sieben Szenen einer einfachen Geschichte, die schlicht genug gewesen war, daß selbst die Kinder von Anfang an gewußt hatten, worauf sie hinauslaufen mußte, und auch erkannt hatten, daß die Geschichtenspielerin nichts schaffen würde, das ihr halb ausgebildetes Denkvermögen durcheinanderbringen oder erschrecken könnte.
    Perwold kicherte. »Die Höchstform ihrer Künste!«
    »Der ihren«, meinte Leonore, »aber nicht der seinen. Vergiß nicht, was die verrückte Ard uns geliefert hat, ehe sie starb. Irgend jemand muß bei ihr gewesen sein und von ihr gelernt haben.«
    »Der sah aber nicht aus wie Brant.«
    Leonore hielt ihm vor: »Du bist ein Dummkopf. Er sah niemandem ähnlich. Ein kranker Kopf kann keine vernünftige Geschichte hervorbringen. Es hätte durchaus Brant sein können. Was wissen wir von ihm über die Zeit vor seiner Hochzeit mit Cynda, außer was den öffentlichen Floskeln des Ehekontrakts zu entnehmen ist?« Sie richtete ihren Blick auf mich, beugte sich nach vorn und reckte sich mühsam über die Wölbung ihres ungeborenen Kindes zwischen uns.
    »Du hast Brants Sohn jetzt nicht bei dir? Wo steckt er, Geschichtenspielerin? Der Junge. Denk an den Ort, wo er sich nun aufhält.«
    Dunst kreiste zwischen ihren gespreizten Händen. Verzweifelt versuchte ich, mir Jorry als Kleinkind vorzustellen und mein Denken mit der Erinnerung an seine dunklen Augen zu erfüllen, die mich beim Stillen musterten, an seinen warmen, leichten Körper (er hatte sich so schwer in meinem Bauch angefühlt und so leicht in meinen Armen) und den sauberen Babygeruch seines Halses. Er hatte wenig Haare gehabt. Er…
    Zwischen Leonores Händen erschien der neunjährige Jorry.
    Zuerst schlief er auf dem Strohlager in der Taverne. Dann tauchten hinter ihm Brant und ich im Streit auf. Die Gestalt von Jorry waberte und wurde blasser. Ich versuchte zu laufen; Brant holte mich ein und hielt mich fest; die Gestalt von Jorry setzte sich auf und blinzelte.
    Dann sah ich etwas, das ich niemals zuvor erlebt und mir auch nicht hätte träumen lassen. Nebelfetzen zogen um Jorry, graubraune, fast, aber nicht ganz durchsichtige Schwaden. Leonore preßte die Augenlider zusammen und ächzte, als strenge sie die Darstellung an. Nun nahm der graubraune Nebel fast durchschimmernde Gestalten an. Einen Augenblick lang waren es Pferde und Männer, dann wieder gar nichts. Es war, als versuchte man in Sommerwolken Formen zu erkennen: erst einen Adler, dann eine Blume, und nichts von alledem existierte außerhalb der Phantasie des Beobachters. Leonore stellte nicht dar, was mein Denken wußte, sondern was es sich vorgestellt hatte.
    Der mal Männer-, mal Pferde-, mal Garnichts-Nebel verzog sich mit Jorry.
    Leonore stöhnte laut und sackte nach vorn. Die Szene zwischen ihren Händen verschwand. Beide Männer knieten besorgt neben ihr, und Perwold legte – zögernd wie ein Mann, der selbst noch nie Kinder gezeugt hat – eine Hand auf den Bauch seiner Schwester. Als Leonore den Kopf hob, war ihr Gesicht schweißüberströmt und angstverzerrt. Sie schob ihre Hand unter die ihres Bruders.
    »Bewegt sich noch«, konstatierte er.
    »Bewegt sich zu stark«, flüsterte sie, und ich entnahm ihrer Betonung, daß sie vorzeitige Wehen befürchtete. Sie war ein Risiko eingegangen, indem sie ihre Muskeln ebenso wie ihr Denken auf der Jagd nach meinen geistigen Bildern überstrapaziert hatte, und ich fragte mich, ob ihre offensichtliche Angst dem Kind selbst galt oder der Sicherheit, die das Kind für ihre Stellung als Königin eines Königs bedeuten würde, der vor ihr bereits zwei andere Frauen gehabt hatte.
    »Nun ist es ruhiger«, meinte der Bruder.
    »Nicht ›es‹ – er!« fuhr Leonore ihn an.
    Perwold zog seine Hand zurück. »Ja, natürlich.«
    »Mach dich nicht lustig. Das ist nicht die Einbildung einer Schwangeren. Das Kind ist ein Sohn.«
    »Bist du sicher?«
    »Ich bin sicher«, antwortete Leonore, und ich saß fassungslos da und fragte mich, woher sie diese Gewißheit nehmen konnte.

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