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Schalmeienklänge

Schalmeienklänge

Titel: Schalmeienklänge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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kalt an; sie schenkte ihm gar keine Beachtung. »Wir beide sind noch nicht fertig miteinander, Geschichtenspielerin. Auf ein neues!«
    Ohne den Blick von meinem Gesicht zu wenden, zog sie aus ihrem Gewand ein kleines, in Seide geschlagenes Päckchen. Sobald sie es geöffnet hatte, gab es einen widerlichen, fauligen Gestank von sich, wie stark verweste konzentrierte Kräuter. Aber als konzentriertes Pulver zubereitete Kräuter verfaulten nicht. Im schummrigen Licht konnte ich nicht deutlich sehen, was sich in dem Päckchen befand, ehe Leonore den Inhalt an die Lippen führte.
    Sie schüttelte sich heftig und wandte sich von mir ab, so daß ich ihr Gesicht erst wieder sehen konnte, als sie die Hände spreizte. Ihre Stimme klang heiser, als hätte sie sich beim Schlucken die Haut ihrer Kehle verbrannt. »Die Weißen Schalmeien. Lord Brant und die Weißen Schalmeien. Denk daran, was Brant dir von sich und den Weißen Schalmeien erzählt hat.«
    Sie würde es wieder schaffen: zwischen ihren Händen den Nebel dazu bringen, Ereignisse darzustellen, die ich nicht erlebt, sondern nur geschildert bekommen hatte, diesmal nicht die leicht ersonnenen Bruchstücke von Jorrys Entführung durch Brants Leute, sondern eine mir einzig und allein wiedergegebene Geschichte. Plötzlich, ich weiß nicht, warum, bezweifelte ich es, daß sie dazu imstande war. Es bestand kein Anlaß für meine Zweifel – ich hatte in diesem düsteren Raum Dinge miterlebt, die ich früher für unmöglich gehalten hätte. Trotzdem kamen mir Zweifel, die so durchdringend waren wie der Gestank dessen, was Leonore gegessen hatte, und so unerschütterlich wie das feuchte Gestein unter meinen gefesselten Füßen.
    Leonore sagte heiser: »Die Weißen Schalmeien.«
    Der Nebel zwischen ihren Händen nahm Gestalt an. Perwold, der nun die Laterne hielt, beugte sich näher, und das Licht glitt über Leonores bebenden Bauch. Ihr Kind im Innern trat und boxte, war es nun durch die Erregung der Mutter oder durch die unbekannte Droge, die sie genommen hatte. Und oben auf dem gespannten Stoff ihres Kleides erstanden zwei Figuren aus dem Nebel.
    Obgleich die Figuren verschwommen, fast transparent waren, ständig dahinschmolzen und ihre Umrisse veränderten, wie das die Gestalten gewöhnlicher Geschichten niemals tun, waren sie deutlich erkennbar. Die eine Gestalt war Brant. Bei der anderen handelte es sich um ein nacktes Mädchen, das auf einem Schwein ritt, deren langes blondes Haar über sie hinweg und über das schmutzige Schwein fiel. Ihr Gesicht war ständig verzerrt, schmolz dahin, daß die Augen bald in die Nase übergingen und sich dann wieder von einer Seite zur anderen zu einem so schrecklichen Grinsen wie im Todeskampf verzogen. Brants Gesicht waberte ebenfalls, aber nicht so wild und nicht mit dem gleichen lüsternen Seitenblick. In den ziehenden Nebeln sah es aus, als sprössen Gegenstände aus dem Körper des Mädchens: Pilze aus ihren Brüsten, ein Dolch aus ihrer Seite, lange, haarige Wurzeln, dick wie Männerdaumen und blaß wie Maden aus ihren Schenkeln. Immer noch mit lüsternem Blick und ohne sich von dem Schwein zu rühren, pflückte sie die monströsen Gewächse von ihrem Leib und reichte sie Brant. In seinen Händen verwandelten sich die Pilze in etwas Schleimiges, Bewegliches, das ich nicht deutlich erkennen konnte. Der Dolch wurde blutig, und Hautfetzen klebten an ihm. Ich mußte fast den Blick abwenden. Die Frau reichte Brant den Dolch, entriß ihn ihm dann wieder und gab ihm statt dessen die madigen Wurzeln, und er nahm sie in die Hände.
    Aus den fahlen Wurzeln wurden zwei Schalmeien.
    In all dem Wirrwarr von verschmelzenden transparenten Formen strahlten nur die Weißen Schalmeien klar und deutlich, und jedes Detail war so genau ausgearbeitet, als handelte es sich bei dem Ganzen um eine Marmorminiatur. Perwold keuchte, und seine Hand schoß nach vorn. Sowie sie den Nebel durchstieß, schrie Leonore auf und fiel vom Stuhl, die Pupillen rollten in ihren Kopf zurück, und die nebelgeborenen Gestalten ihrer Geschichte lösten sich ins Nichts auf. Sie schlug hart auf dem Boden auf, landete auf der Seite, und die Bürde in ihrem Bauch hüpfte und bebte.
    Der Diener zischte, beugte sich über sie und sprang dann zu mir. Ein Messer schwebte in seiner Hand; einen Augenblick lang dachte ich, sie wäre tot und ich mit ihr. Aber der Diener durchschnitt meine Fesseln und zerrte mich zu der gestürzten Spielerin. Er schob mich auf ihre Röcke zu, blickte zu

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