Schalmeienklänge
Zweck.
Leonores Blick strich über mich hinweg. Dann winkte sie, und ein stämmiger Diener nahm die Zügel meines Ponys und führte mich an der Sänfte vorbei auf das Schloß zu.
Er ging mit mir im Kreis um das Schloß. Zuerst dachte ich, wir schlügen den Weg zum alten Kastell, dem jetzigen Sitz der Priester, ein, doch statt dessen gelangten wir zum unvollendeten Flügel, wo ich beim ersten Mal untergebracht gewesen war. Der Galgen und seine grauenvolle Last standen nicht mehr im schmutzigen Innenhof; der war nun leer bis auf den Schotter und den Bauschutt der Steinmetze und Zimmerleute. Der Mann geleitete mich durch eine Hintertür und dann durch eine zweite, die verschlossen war, obgleich die halbfertigen Gänge leer standen. Nun begriff ich, wohin er mich wohl bringen würde, aber jetzt war es zu spät zum Weglaufen, selbst wenn mein Körper es gestattet hätte.
Hinter der verschlossenen Tür führten Steinstufen hinab und dann ein langer Gang in die Finsternis. Ich hatte meine Orientierung nicht verloren; dieser Tunnel führte zum alten Schloß. Rofdal verriet Klugheit mit seiner Bauweise. Ein graziöser Palast mit vielen Baikonen mochte eine geeignete Demonstration neuen Wohlstandes sein, aber ein befestigter Bergfried war sicherer. Durch einen Geheimtunnel konnte er beides haben.
Das alte Schloß besäße seine eigenen Verliese. Aber man führte mich nicht durch den Gang zu Rofdals Priesterheim. Statt dessen schob man mich in einen kleinen Raum tief unter dem Palast selbst, den einzigen Raum, den ich auf diesem Korridor sah. Der Stoß des Dieners warf mich flach auf die leicht feuchten Steine. Dann krachte die Tür ins Schloß, hielt das graue Licht von oben fern, und ich lag wieder mit meinen Schmerzen und Prellungen in der Finsternis und war diesmal glücklicherweise zu benommen, um mich zu fürchten.
*
Ich mußte nicht lange in der Dunkelheit warten. Mit Leonore kam Licht, Laternen, die auf dem dunklen Stoff ihres Gewandes schimmerten, wo er sich über ihren geschwollenen Leib spannte. Und mit ihr kamen auch der gleiche Diener und ein weiterer Mann, der prunkvoll in dunkelroten Samt gekleidet war. Ich brauchte ihn nur anzusehen, um zu erkennen, daß er der Bruder der Königin sein mußte. Er hatte den gleichen zarten Körperbau, das schmale Gesicht und die dunklen Augen. Aber nicht die gleiche kalte Ruhe.
»Binde sie an einen Stuhl«, befahl er, und ich hörte, daß sogar seine Stimme, die für einen Mann ziemlich hoch war, als die Leonores hätte durchgehen können.
Meine Fesseln waren locker und sollten mich eher festhalten als verletzen. Leonore setzte sich ebenfalls, und ich dachte – törichterweise, aber Schmerzen und Erschöpfung hatten meinen Geist auch Torheiten geöffnet –, daß ein so großes Kind zu tragen, wie Rofdals es zu werden versprach, es schwer für sie machen mußte, lange aufrecht zu stehen.
Jorry war ein zierliches Kind und seine Geburt recht mühelos gewesen.
»Willst du sie erst verhören?« fragte der Mann.
»Wozu sich damit aufhalten? Lügen interessieren mich nicht«, erklärte die Königin und zog eine kleine Flasche aus ihren Röcken.
In diesem Augenblick erkannte ich, daß Brant in Bezug auf sie recht gehabt hatte, und Angst kroch mein Rückgrat empor. Leonore praktizierte die Bewußtseinskünste – und was darüber hinaus? Den alten Glauben? Das Schinden, das Teil von ihm war? Wenn sie meinem Denken alles entrissen hätte, was sie interessierte (und ich zweifelte nicht daran, daß sie es konnte, nachdem es Brant so mühelos gelungen war), was würde sie anordnen, das mit meinem nutzlosen Körper zu geschehen hätte? Ich würde nicht einmal gehäutet werden müssen. Ich war nicht Zofe einer Königin, deren Tod öffentlich und begründet ablaufen mußte. Ich war eine umherziehende Geschichtenspielerin, und keiner würde sich Gedanken machen, wenn ich verschwände.
Nein. Man würde sich doch Gedanken machen über mein Verschwinden: Ich sollte bei einem Mittsommermaskenfest vor dem König auftreten. Ich war öffentlich dazu beauftragt worden; der König würde sich vielleicht erinnern und sich nach mir erkundigen. Ich mußte erscheinen, weil Brant es in aller Öffentlichkeit so arrangiert hatte.
Weil Brant es so arrangiert hatte.
Leonore trank ihre Flasche leer (war es die Erste oder die Zweite, oder brauchte sie keine zwei?) und schloß die Augen. Sie hob den Arm mit einer merkwürdigen Geste und schlug die Luft über ihrem Kopf weg, als lastete diese
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