Schalmeienklänge
dauern, aber wenn ich die Weißen Schalmeien finde, werde ich jemanden schicken, der dich zu Jorry führt. Allerdings nicht sofort – erst möchte ich herausfinden, was du aus ihm gemacht hast. An deinem ersten Abend hier nannte ich dich eine Lügnerin und Diebin, ich täuschte mich nur insofern, als ich deine Fähigkeiten in beidem unterschätzte.«
»An deine diesbezüglichen Fähigkeiten komme ich allerdings nicht heran. Warum forderst du mich auf fortzugehen, Brant? Ich habe meinen Zweck für dich doch längst erfüllt. Leonore glaubt, du befändest dich im Besitz der Weißen Schalmeien. Schickst du mich wirklich um meiner Sicherheit willen fort oder weil Leonore durch mich erfahren könnte, daß du die Schalmeien gar nicht hast?«
»Das hat sie bereits erraten.«
»Wie?«
»Besäße ich sie, hätte ich sie auch benutzt.«
»Wozu?«
»Um eine Frühgeburt herbeizuführen.«
Mir stockte der Atem. »Hättest du denn…«
»Sie denkt jedenfalls so.« Sein Gesicht spannte sich an. »Und du ja auch.«
»Aber wenn sie nicht mehr glaubt, daß du die Schalmeien hast, dann könnte sie von mir doch gar nichts erfahren. Warum läßt du mich dann nicht durch sie verhören und umbringen, Brant? Das wäre doch ein geringeres Risiko, als mein Leben beschützt zu haben.«
»Ja.«
»Und warum hast du es dann getan? Warum?«
Er schaute mich mit festem Blick und hartem Gesicht an und schwieg. »Selbst das würdest du mir zutrauen«, hatte er gesagt, aber ich wußte nicht, was ich wirklich von ihm halten sollte. Lügen umgaben ihn wie Luft zum Atmen, und ich wußte nicht, ob er mir riet, Veliano zu verlassen, um mich zu schützen oder um mich zu irgendeinem Machwerk zu benutzen, das ich noch nicht durchschaute, oder gar um meine Gefangennahme durch Leonore zu provozieren, vor der er mich angeblich warnte. Wenn ich aus Rofdals Gunst mit einer Karawane flöhe, würde das eine Festnahme plausibel und einfach machen. War das Brants Absicht? Er hatte die Weißen Schalmeien noch nicht. War ich immer noch ein Werkzeug, um sie irgendwie zu beschaffen? War Cynda eines? Oder sogar Jorry?
Ich traute Brant nicht. Da stand er und starrte mich an. Die blutigen Kratzer verunstalteten seine Wange, und ich betrachtete die feste Linie seines Mundes und spürte die Kraft seines muskulösen Körpers. Ich traute ihm nicht.
Wohl überlegt erklärte er: »Was immer ich antwortete, welchen Grund ich dir nennen würde, dich aus Veliano wegzuschicken, du würdest mir nicht glauben, nicht wahr?«
Ich zögerte. »Das stimmt.«
»Und du reist nicht ohne Jorry ab.«
»Nein!«
»Ein Jammer«, sagte er vernichtend, »daß du vor zehn Jahren noch nicht so sicher in deinen Entschlüssen warst.«
»Eben nicht. Es hielt mich davon ab, wie Cynda zu werden. Oder wie Ard.«
Ich dachte, ich hätte ihn zu weit getrieben; ich dachte, er würde mich schlagen. Aber er tat es nicht. Er schritt aus dem Turmzimmer, und ich hörte seine Stiefel auf der Treppe. Ein plötzliches Zittern angesichts der Risiken, die ich eingegangen war und ihres Scheiterns ergriff meine Beine, daß ich zu Boden sackte und den Kopf in meinen Händen vergrub. Dann begannen die derben Glocken der kleinen Nachbarstädte zu läuten, erst eine, dann noch eine und dann eine weiter entfernt, als die Neuigkeiten von dem neuen Thronfolger sich verbreiteten, bis die Dunkelheit hereinbrach und die Nachtluft vom Freudenschall bebte.
*
Die Lustbarkeiten für den neuen Prinzen trugen den Stempel von Rofdals persönlicher Freude. Königliche Schatztruhen wurden geöffnet, um Festmähler und Umzüge auszustatten, nicht nur in Velin, sondern in allen Siedlungen, allen Bauerndörfern und jedem Bergwerkslager hoch in den rauhen Bergen. Schulden bei der Krone wurden getilgt, Verbrecher begnadigt. Leonores Bruder Perwold wurde befördert. Das Kind wurde vier Tage lang, einen Tag für jeden Schutzgott, vor den Augen derer abgeschirmt, die nicht seiner Geburt beigewohnt hatten, und das war ohnehin der halbe Hof. Die rituelle Abschirmung gab Stoff zu den üblichen Gerüchten über Alleinerben: Der Sohn wäre kränklich oder mißgebildet. Doch die Gerüchte hielten sich in Grenzen, und niemand schenkte ihnen wirklich Glauben. Und als das Kind schließlich an seinem Tauftag von einem Balkon des Palastes gezeigt wurde, stieg ein lauter Aufschrei der Zustimmung aus der Menge unten, von der doch keiner nahe genug stand, um das Kind deutlich zu sehen. Das war eine der seltenen Gelegenheiten, daß ich
Weitere Kostenlose Bücher