Schalmeienklänge
und den nutzlosen rechten Arm neben sich im Schmutz schleifend auf mich zu. Sein Blick war auf mein Gesicht geheftet. Er war fast bei mir angelangt, als er das Bewußtsein verlor, und ich sprang hinzu, um ihn zu fangen, als er stürzte.
11
Ich saß am Boden der zerfallenen Hütte und hielt schon viel zu lange Brants blutiges Haar an meine Brust gedrückt. Von allen meinen möglichen Empfindungen und denen, die vernünftig gewesen wären, war dieses eigentümliche Glück gewiß die unerwartetste. Eigentümlich, belastet und angstgepeitscht – aber Glück nichtsdestotrotz, und ich ließ es zu, bis es vorüber war und ich wieder klar denken konnte.
Diesmal würde ich nicht fliehen.
Es war ein heißer Tag geworden. Ich schätzte, daß es kurz nach Mittag war, und versuchte mir vorzustellen, was seit heute früh im Palast geschehen war. Jede Szene malte ich mir im Geist aus, als wäre sie ein Geschichtenspiel zwischen meinen Händen. Ich versuchte mir die Geschichte vorzustellen, wie Brant oder Leonore sie gesehen hätten – als jemand, der es gewohnt war, Handlungen und Motive anderer vorherzusehen und sich zunutze zu machen. Ich versuchte, wie eine Person von Stand zu denken.
Irgendein Priester würde entdeckt haben, daß Brant verschwunden war, und hätte es seinem Glaubensoberen gemeldet. Schließlich wäre die Neuigkeit zum König vorgedrungen. Die Leute, die mich vom Schloß hatten reiten sehen – Stallknechte, Bauern, eine Gänsehirtin –, würden befragt werden. Rofdal würde erfahren, wer Brant befreit hatte und welche Richtung wir eingeschlagen hatten.
Dann waren da noch der Priester und die beiden Soldaten, die ich mit den Weißen Schalmeien verzaubert und angewiesen hatte, sich unten im Priesterheim zu verstecken. Warum… warum hatte ich sie nicht mitgenommen? Schon vor Stunden hätte die Wirkung des Zaubers nachgelassen, und sie hatten die Weißen Schalmeien mit eigenen Augen gesehen. Sie waren gewiß direkt zu Leonore geeilt, daß sie so schnell einen Kurier zu Eallow geschickt hatte mit dem Befehl, uns anzugreifen. Die Streitmacht der Königin. Und jetzt die meine.
Aber Eallow hatte behauptet, es befänden sich keine Priester unter Leonores Anhängern, also mußte ihr Informant einer der beiden Wachsoldaten gewesen sein. Und was war mit dem Priester? Er hätte den anderen Priestern berichtet. Schließlich würde einer beim König vorsprechen, um ihm zu melden, daß die Geschichtenspielerin eine Seelenjägerin war, die in fremdes Denken eindrang, Körper beherrschte und so den Gefangenen entführt hatte. Sie hätten die Schalmeien beschrieben. Rofdal, dachte ich, hatte vielleicht noch nicht von ihnen gehört, gewiß aber der oberste Priester. Wenn sie die Seelenjägerei bekämpften, so hatten sie bestimmt deren gefährlichste Lehre in ihrer eigenen Geheimlehre überliefert.
Aber warum hatte uns dann Rofdals Armee nicht verfolgt? Er war kein Mann von Geduld. Er hätte seine Soldaten abkommandiert, sobald er erfahren hätte, daß sein Gefangener verschwunden war, und seine Soldaten hätten damit gerechnet, nur eine Frau, vier verräterische Wachsoldaten und einen verletzten Lord vorzufinden. Diese Streitmacht hätte uns mühelos aufstöbern können und müßte schon längst hiersein. Warum war dem nicht so?
Ich konnte mir nur eine Antwort vorstellen: Leonore hatte es verhindert. Sie wollte, daß ihre Geheimarmee die Schalmeien an sich riß, Brant und mich umbrachte und wieder in den Wäldern untertauchte, ehe Rofdals legitimes Heer das ihre zu sehen bekommen hätte. Und sie würde mit ihrer Streitmacht auch nicht Rofdals Soldaten angreifen; Gemetzel erwecken Verdacht. Statt dessen mußte Leonore ihren Einfluß geltend gemacht haben, um Rofdal zu überreden, seine Soldaten zurückzuhalten und den Priestern zu untersagen, eine Verfolgung von sich aus aufzunehmen. Aber wie war es Leonore gelungen, den König zu überzeugen? Welche Argumente hatte sie benutzt?
Rofdal. Ich sah ihn so deutlich, als ob er vor mir stünde. Ein Mann, der für die Macht geboren war, nein, mehr noch, der für diese besondere Furchtlosigkeit niemals herausgeforderter, niemals in Frage gestellter Macht geboren war. Ich sah seinen fleischigen, vom Essen, Trinken und Frauen überfütterten Leib und das breite Gesicht vor mir mit den kleinen Augen, die noch kleiner wurden, wenn sich ihm etwas nur bei den unbedeutendsten Anlässen in den Weg stellte. Brant hatte als der Berater des Königs dessen Vertrauen genossen
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