Schamanenfeuer: Das Geheimnis von Tunguska
Nachttischbeleuchtung an.
|30| »Sven? Sag bloß, ich habe verschlafen?« Ein rascher Blick auf den Funkwecker versicherte ihr, dass die angegebene Zeit auf ihrem Handy stimmte. »Was willst du von mir?«, zischte sie wütend. »Es ist erst halb zwei. Mir bleiben noch vier Stunden, bevor es losgeht!«
»Wunderbar«, bestätigte die flüsternde Männerstimme am anderen Ende der Leitung. »Ich kann es kaum erwarten. Wir beide acht Wochen in der sibirischen Taiga. Das ist wie eine Hochzeitsreise ohne Limit. Findest du nicht?«
»Schon vergessen? Du bist bereits verheiratet, und das nicht mit mir«, erwiderte Viktoria ärgerlich. »Und wenn du nicht sofort auflegst, werde ich deiner besseren Hälfte bei nächster Gelegenheit reinen Wein einschenken, welchen Fehlgriff sie vor fünfzehn Jahren getan hat!«
»Uh«, raunte der Anrufer spöttisch, »Frau Doktor spielt mal wieder den Moralapostel. Warte ab, wenn du zwischen Rentierherden, Mückenschwärmen und betrunkenen Russen der Einsamkeit verfällst, wirst du froh sein, wenn ich an deiner Zeltwand rüttele …«
Er lachte leise, und Viktoria betrachtete für einen Moment ungläubig ihr Mobiltelefon, bevor sie endgültig auflegte.
Sie beschloss, nicht weiter über den Anruf nachzudenken, und löschte das Licht, um sich die verbliebene, viel zu kurze Zeit abermals in die Kissen zu schmiegen.
Spätestens in sieben Stunden würde sie sich mit dem Problemfall Sven Theisen auseinandersetzen müssen, und zwar für ganze zwei Monate. Unglücklicherweise hatte sich Professor Doktor Gregor Rodius, der Leiter der geophysikalischen Fakultät der Universität Leipzig, nicht dazu überreden lassen, bei der bevorstehenden Expedition nach Sibirien auf Theisen zu verzichten. Als Spezialist auf dem Gebiet der elektromagnetischen Tiefenforschung war Sven bei der Untersuchung zum Niedergang eines gewaltigen Meteoriten vor ziemlich genau einhundert Jahren im Gebiet der steinigen Tunguska von großem Nutzen.
Dummerweise erschien Viktoria diese Expedition für ihre Karriere zu wichtig, um die Teilnahme allein wegen ihrer Abneigung gegenüber Theisen abzulehnen. Obwohl er angeblich glücklich verheiratet war, stellte er ihr seit Monaten nach; mehr als einmal hatte sie ihm gedroht, wegen seiner Unverschämtheiten bei Professor Rodius vorzusprechen. |31| Doch Theisen hatte nur gelacht und ihr vorgehalten, sie verstehe keinen Spaß.
Bei ihrer Ankunft am Flughafen Berlin/Schönefeld am nächsten Morgen sollte sie eine Ahnung davon bekommen, wie aufsehenerregend die bevorstehende Expedition tatsächlich werden würde. Man schrieb den 22. Juni 2008; das Wetter an diesem Sonntag zeigte sich ausnahmsweise von seiner schönsten Seite.
Während etliche Pressefotografen vor dem Flughafengebäude in der gleißenden Sonne auf besondere Gäste warteten, schlich Vicky, wie ihre Freunde und Kollegen sie nannten, an ihnen vorbei, um wie verabredet gegen zehn Uhr zum Treffpunkt der deutschen Delegation zu gelangen. Einer kleinen Gruppe von drei Geophysikern, die mit einer russischen Delegation von mindestens zehn Wissenschaftlern und Studenten in der Steinigen Tunguska Sibiriens zusammentreffen sollten, um den Einschlagskrater eines bisher nicht eindeutig nachgewiesenen Meteors zu ermitteln.
Wie gewöhnlich wurde Viktoria von Professor Doktor Rodius, ihrem Mentor und Vertrauten, mit einer freundschaftlichen Umarmung begrüßt. Sie mochte den älteren, grauhaarigen Mann, den sie beim Vornamen ansprechen durfte, nicht nur wegen seines fundierten Wissens, sondern auch, weil er ihr außerhalb des Campus als väterlicher Freund zur Seite stand.
Der Taxifahrer trug Viktorias Gepäck, einen Koffer und eine Reisetasche, bis zum Abflugschalter. Nachdem sie die Rechnung bezahlt und sich ausufernd bedankt hatte, verabschiedete er sich mit einer Empfehlung und entschwand zwischen den Reihen wartender Menschen. Erst danach erspähte sie ihren Kollegen Sven Theisen, der groß, blond und mit schwindendem Haupthaar aus der Gruppe von Touristen wie ein Leuchtturm herausragte.
Theisen verabschiedete sich mit einem bühnenreifen Kuss von seiner hübschen, dunkelhaarigen Ehefrau und den drei quirligen Kindern. Gleichzeitig scannten seine blassblauen Augen Viktorias zierlichen Körper mit einem solch unverhohlenen Verlangen, dass sie sich in ihrer knappen Jeans und der ärmellosen Bluse plötzlich unwohl fühlte. Missmutig schüttelte sie ihre brünette, schulterlange Mähne und setzte sich wie zum Schutz eine
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