Schamland
Zuweisung eines Ausgabetags. »Mittwochs kriege ich dann meine Ausgabe«, sagt sie. Das klingt ein wenig wie Abfütterung, wende ich ein. »Ist ja auch so«, antwortet sie. Donnerstags findet ein gemeinsames Frühstück statt. Auch da geht sie hin, um unter Leute zu kommen. »Sonst werde ich bekloppt, sonst fällt mir die Decke auf den Kopf. Ich habe ja nur Krankheit, Krankheit …«
Die Tafel ist mittlerweile Teil ihres Alltags geworden. Ein Teil, den sie in ihrem persönlichen Umfeld so lange wie möglich verschwiegen hat. Nicht einmal ihrer Großmutter (der sie sonst alles anvertraut) erzählte sie davon, aus Scham. »Weil so schlecht darüber geredet wird. Weil sogar meine eigene Mutter fragte: Wie, Tafeln? Muss das sein? Ich konnte mit keinem darüber reden.« Auch nach so vielen Jahren erlebt sie in ihrem Umfeld immer wieder Vorwürfe und Abwertungen. Die eigene Mutter ist nach wie vor fassungslos. »Die will das einfach nicht wahrhaben. Die schämt sich für mich. Vor ihren Bekannten und Arbeitskollegen. Aber dafür kann ich mir nichts kaufen«, fasst sie trocken zusammen. »Meine Mutter unterstützt mich mit 50 Euro monatlich. Damit die Katze wenigstens was zu fressen hat.«
Mittlerweile erlebt sie ein wenig mehr Normalität im Umgang mit der Tafel. »Das ist wie eine Familie, man kennt sich.« Sparen ist für sie eher ein Nebeneffekt. »Ich rauche nicht, ich trinke nicht, ich gehe nirgends hin. Viel brauche ich eigentlich nicht.« Ihr Wunsch nach Begegnungen steht jedoch in merkwürdigem Kontrast mit der gefühlten unsichtbaren Wand zwischen ihr und den anderen Tafelnutzern. »Groß reden kann ich mit denen nicht. Das ist mir aber wurscht. Ich gehe anders durchs Leben.«
Diese Frau geht tatsächlich ihren eigenen Weg. Nicht weil sie es möchte, sondern weil sie es muss. Und dabei weiß sie selbst am wenigsten, woher sie die Kraft nimmt, sich immer wieder einen kleinen Anteil am Glück zu erkämpfen. Trotz schwieriger Kindheit, einem Herzinfarkt, einem Schlaganfall, Magersucht, Nierenleiden. »Ich fühle mich eigentlich hundeelend. Aber ich zeige das nicht so. Ich will mich nicht hängen lassen.« Sie berichtet von der schmerzhaften Prozedur der Dialyse, immer wieder Nadeln. »Mein Arzt hat mir noch eine Lebenserwartung von zehn Jahren zugesagt. So auf den Kopf zu. Das fand ich nicht so schön, dass er mir das so vor den Kopf knallt. Deswegen kämpfe ich. Ich kämpfe darum, dass er nicht recht behält.« Sie zeigt mir ein Erinnerungsfoto von einem Ausflug in einen Freizeitpark. Eine Filmkulisse. Sie steht in einem Boxring, es sieht aus wie in einem Rocky-Film mit Sylvester Stallone. Der linke Arm in Siegerpose nach oben gestreckt, die Faust geballt. Ihren rechten Arm kann sie heute kaum noch heben. Zu viele Kanülen von zu vielen Dialysen in zu vielen Wochen.
Ein Foto wie eine Metapher für die gesamte Welt der Tafeln. Menschen, die sich durchschlagen müssen und (beinahe) zu schwach dafür sind. Die Gesellschaft ist ihnen oft Kulisse, an der sie eingeschränkt teilnehmen können – und die Warenwelt besteht nur noch aus Konsumresten. Die Lebensmittel, die nicht wöchentlich aus den Spendersupermärkten abgeholt werden, sondern direkt über Spenden gekauft werden, nennt sie »echte Lebensmittel«. So als wären die Waren der Tafeln nur Requisiten.
»Mir wäre es eigentlich lieber, mehr Geld zu haben«, fasst sie, wie viele andere auch, ihre Position zusammen. »Um mir dann meine Sachen selber zu kaufen.« Sie will nicht abhängig sein von den Almosen anderer. Sie zeigt mir zum Abschied einen Zeitungsartikel aus der lokalen Presse, den sie sich aufgehoben hat. Er ist überschrieben mit dem Titel »Abgespeist«. Ein Foto zeigt lange Tischreihen, an denen Menschen sitzen, die an einer öffentlichen Speisung für Bedürftige teilnehmen. Im Vordergrund ein lachender Vertreter der lokalen Promigemeinde. »Seltenes Glück« steht da unter dem Bild. Uns beiden bleibt das Lachen im Hals stecken.
Grundsicherung statt Après-Ski
Nach zwei Tagen voll mit Begegnungen ist es Zeit zu fahren. Vom Ruhrgebiet, wo die vierspurigen Schnellstraßen fast bis an den Wohnzimmertisch reichen, ist es ein weiter Weg bis zu den bayerischen Wiesen am Rande eines Kleinstadtidylls. Wieder eines dieser Häuser, die nicht vermuten lassen, dass hier Menschen wohnen, die zur Tafel gehen. Aber die Adresse stimmt.
Ich treffe ein freundliches kinderloses Ehepaar im Rentenalter, das inmitten einer Büchersammlung lebt, die drei von
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