Schamland
Führerschein wegen Trunkenheit am Steuer. Seitdem ist es vorbei. »Es ist schwer, ohne Führerschein einen Job zu finden. Aber ich habe selbst Schuld. Ich habe ihn versoffen.« Schuld ist einfacher als Scham. Ein Schuldeingeständnis beinhaltet noch einen letzten Rest von Aktivität. Scham hingegen ist passives und stummes Leiden. Der einstige Ernährer leidet sehr darunter, dass er seine Familie nicht mehr versorgen kann und auf seine Frau angewiesen ist. Dabei verdient sie als ungelernte Helferin in Teilzeit in einem Altenpflegeheim nur das Nötigste: 800 Euro netto im Monat. Dazu kommt das Kindergeld für zwei Kinder. Weit kommt die Familie damit nicht, meint Herr T., der das Rauchen aufgehört hat, weil er seine Frau nicht um Tabak »anbetteln« will.
Das Haus, geerbt von den Eltern der Frau, ist marode, Dach und Heizung sind kaputt. Das Geld für Reparaturen fehlt seit Jahren. Von außen sieht alles fast normal aus, doch die Fassade täuscht: »So ein Haus, das ist schweineteuer. Das sehen die meisten Leute nicht. Klar, wir zahlen keine Miete. Aber wir brauchen eine neue Heizung, wir brauchen Möbel. Ich schaue jetzt immer in die Zeitungen, wo etwas verschenkt wird. Zu den Sozialkaufhäusern gehe ich nicht, das kostet ja auch wieder Geld. Den Wohnzimmerschrank habe ich geschenkt bekommen. Die Garnitur habe ich geschenkt bekommen. Ein Kinderzimmer war noch nicht dabei. Man will immer, aber man schafft es nicht! Und die Kinder selbst, die wachsen auch. Tagtäglich gehen die in die Höhe. Da kann man zugucken.«
In dieses Leben passte die Tafel nicht ohne innere Widerstände. »Niemals. Da gehen wir nicht hin!«, erinnern sie sich gemeinsam an den ersten Eindruck, als sie über Freunde von der Tafel in ihrem Ort erfuhren. Aber der Druck wurde immer größer: »Als das Geld immer knapper wurde und wir überhaupt nicht mehr klarkamen, haben wir anders darüber gedacht. Und als am Ende des Monats nichts mehr da war, waren wir bereit. Der Kühlschrank war leer, die Vorratskammer war leer. Und dann haben wir gesagt, ach komm, probieren wir es einfach mal.«
Mittlerweile sind die beiden bei der Tafel »gut integrierte Nutzer«. Die Tafel ist für sie sogar zu einem neuen Lebensmittelpunkt geworden, zu einem Umschlagplatz für kleine und größere Akte der Solidarität. Seit sich dort Selbsthilfezirkel gebildet haben, ist in der Familie so etwas wie Optimismus zu spüren: »Mittlerweile hat man da schon seine Freunde gefunden. Man hilft sich untereinander. Hast du einen Schrank? Ich habe eine Couch! Ich habe das, ich brauche jenes. Das sind auch so Kriterien, wo man sagen kann: gut, dass ich da hingehe.« Die Tafel ist für sie eine Art der eingeschränkten Selbstversorgung auf niedrigem Niveau: »Man legt schon mal einen Blick auf die Regale und sagt sich: Mein Gott! Du hast die Nummer 25. Wenn man die Nummer 1 hat, dann kann man sich glücklich schätzen. Da hat man den vollen Zugriff. Dann kann man richtig schön ›einkaufen‹. Und sich auch wirklich gute Sachen aussuchen.« Viel Auswahl gibt es nicht, deshalb bleibt nur Hoffnung. Immer wieder drängen sich diese Fragen in den Vordergrund: Was gibt es hier? Was gibt es woanders? »Die haben uns versprochen, dass es bald Fleisch und Wurstwaren gibt. Wenn die einen Kühlwagen haben. So abgelaufenes Fleisch.«
Aber Hoffnungen allein nähren niemanden. Solange es dieses Angebot noch nicht gibt, geht die Familie geschlossen in eine Suppenküche. »Hier in der Nähe gibt es auch einen Mittagstisch. Der ist von Montag bis Samstag geöffnet. Das kostet für jeden von uns 1,25 Euro. Also wenn man mit vier Personen dort hingeht, sind das 6 Euro. Dafür bekommt man beim REAL schon gute Dosen. Die kann man aufreißen, das ist dann billiger. Oder Fischstäbchen mit Kartoffelpüree. Das ist halt ein Rechenexempel. Was schaffe ich zu Hause für 1,25 Euro? Beim Mittagstisch gab es schon mal Gulasch mit Nudeln. Das ist eine schwerwiegende Sache. Das kostet schon! So ein halbes Pfund Gulasch, das kostet. Und dann muss man noch die Nudeln dazurechnen. Und die Soße kann man ja nicht mit Wasser einrühren!« Armut bedeutet, das eigene Leben als Rechenexempel zu erfahren, die eigenen Bedürfnisse in Zahlenkolonnen zu zerlegen. »Da freut man sich eben schon auf den Dienstag oder den Freitag. So rein tafelmäßig.«
Beide wünschen sich, dass ihr Leben besser läuft, vor allem wünschen sie sich, dass es sich besser anfühlt, denn: »Zur Tafel zu gehen fühlt sich an, als
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