Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schamland

Schamland

Titel: Schamland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Selke
Vom Netzwerk:
Tafel steht und sieht, dass man auf Almosen angewiesen ist, dann ist das schlimm, dann ist es ganz offensichtlich, dann kann man nichts mehr verdrängen. Das ist dann erbarmungslose, schonungslose Offenheit.«
    Trotz jahrelanger Tafelnutzung, trotz abnehmender Widerstände, bleiben die beiden auf sicherer Distanz. Noch immer fällt es ihnen sichtlich schwer, das Ergebnis zu akzeptieren, das die soziale Rechenmaschine für sie ausgegeben hat. Immer wieder versuchen sie durch Verdrängung, zu einer befriedigenden Bilanz zu gelangen. Verdrängung bedeutet in ihrem Fall auch, sich nur minimal auf andere Menschen einzulassen, die ihnen bei der Tafel begegnen. Sie sind Teil einer Welt, mit der sie eigentlich nichts zu tun haben wollen. »Wir haben da jetzt nicht die Kontakte gesucht. Wir suchen keinen Anschluss. Wir wollen uns nicht groß unterhalten. Es fehlt der richtige Draht zu den Leuten. Da fühlt man sich überhaupt nicht wohl. Wir sagen: Grüß dich! Servus! Mehr Kontakt suchen wir nicht.«
    Der Grundton ihrer Geschichte ist, allen Widrigkeiten zum Trotz, optimistisch. Mit bewundernswerter Hartnäckigkeit glauben sie an sich und daran, mit Ende 60 noch etwas Neues aufbauen zu können, auch wenn dabei der Mut immer wieder verlorengehen kann, etwa, wenn aus Kleinigkeiten echte Hemmnisse werden. »Ich muss zum Beispiel überlegen, wie ich zehn Briefe verschicken kann. Das ist schon ein schwieriges Unterfangen. Zehn Briefe bedeuten immerhin zehn Briefmarken, also 5,50 Euro. Das fällt einem dann ein. Früher war das eine Nebensächlichkeit. Heute muss ich überlegen, wie ich das hinbekomme.« Was meinen Gesprächspartner aber wirklich wütend macht und ihm die Zornesröte ins Gesicht treibt, sind die Entmutigungen, die von außen kommen. »Ich ver­suche, etwas aufzubauen. Aber die vom Sozialamt wollen das gar nicht. Die sagen: Ach, lassen Sie das doch sein. Sie ­haben ein Sofa und einen Fernseher, damit können Sie doch zu­frieden sein. Wir sind zu alt, ist die Botschaft. Wir müssen ja nicht arbeiten. Wir sollen uns mit dem abfinden, was wir haben. Und froh sein über das, was wir bei der Tafel kriegen.« Wer gegen solche Widerstände arbeiten muss, kann schnell den letzten Mut verlieren.
    Zur Tafel zu gehen bedeutet, nichts mehr verdrängen zu können. Und wer nichts mehr verdrängen kann, fühlt sich in seinem Selbstbild bedroht. Mit diesem Mechanismus kommt nur klar, wer es unbedingt muss. So erklärt sich, dass zunächst nur die Ehefrau zur Tafel ging. Für sie stand weniger auf dem Spiel, sie fühlte sich robuster: »Wenn es schlimm wird, dann funktioniere ich wie ein Roboter! Auch wenn ich die Welt nicht mehr verstehe. Als wir dann zur Tafel gehen mussten, habe ich wieder funktioniert. Tagsüber habe ich alles gemacht. Am Abend habe ich dann eine Flasche Cognac getrunken.« Erst als seine Frau für längere Zeit krank wurde, ging schließlich, »gezwungenermaßen«, auch der Mann. Zuvor baute er sich einen dicken Schutzpanzer auf: »Ich hatte große Angst davor, in ein dunkles Loch zu fallen. Ich dachte, dann kann ich aufhören, dann kann ich mich auch beerdigen lassen. Aber ich habe mir gesagt: An meiner Würde knabbert keiner. Ich bin Mensch und ich habe mein Leben lang gearbeitet. Ich habe eine entsprechende Bildung. Ich weiß, was ich kann. So habe ich es dann geschafft, mich zu retten.« Was ihm hilft, ist die radikale Versachlichung der eigenen Lebenssituation. Zur Versachlichung gehört auch die Annahme, dass die Tafelnutzung nur ein Provisorium darstellt. Was auch hilft, ist Gewöhnung. »Die Widerstände nehmen ab«, resümiert er. »Aber es kostet unendlich viel Kraft«, entgegnet sie.

Die Welt da draußen
    Hinter den fein herausgeputzten Einfamilienhäusern – kleinbürgerliche Anstandsbauten mit schicken Autos in der Einfahrt – verbirgt sich, völlig unerwartet, die Armut mitten unter uns. Ich besuche Herrn T. und seine Lebensgefährtin. Die beiden haben die Rollen getauscht, denn Herr T. ist längst nicht mehr der Ernährer der Familie. Obwohl er schon lange Zeit arbeitslos ist, sieht er seine Chancen durch eine rosa Brille. Für den Realismus ist die Partnerin zuständig. Sie weiß, wie lange er schon keinen Job mehr hat. Sie spricht das harte Urteil mit weicher Stimme, fast liebevoll, aus. Es ist nicht als Vorwurf gemeint, sondern als Feststellung über ihre gemeinsam geteilte Welt: »Er kriegt jetzt gar nichts mehr«, wirft sie ein, »noch nicht einmal Hartz IV. « Herr T. verlor seinen

Weitere Kostenlose Bücher