Schamland
vier Wänden des Wohnzimmers einnimmt. Als ich mir einige der Buchtitel ansehe, kommt unser zunächst träge dahinplätscherndes Gespräch in Schwung. »Die hätten wir in so einer Sozialwohnung gar nicht untergebracht. Wir haben schon alles aufgegeben und verloren. Nicht auch noch die Bücher!«, klagt mein Gesprächspartner. Bei Kaffee und selbstgebackenem Kuchen beginnen die beiden, mir ihre Geschichte zu erzählen.
Sie beginnt, wie fast immer, mit besseren Zeiten. »Früher« gab es ein Architekturbüro mit gut einem Dutzend Angestellten. Rund dreißig Jahre lang ging das gut. Große Aufträge, große Spesenrechnungen, große Reisen, immer dabei beim Après-Ski, oft in der Schweiz. Bis sie von einem Geschäftspartner betrogen wurden. Es war, als würde ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen. Ich höre das nicht zum ersten Mal. »Wir haben so richtig in die Scheiße gegriffen. Und am Schluss alles verloren. Wir waren einfach zu blauäugig. Wie fies Menschen sein können, kann man sich gar nicht vorstellen, wenn man es nicht selbst erlebt. Plötzlich standen wir vor dem Nichts. Wir hatten keine Rente eingezahlt, wir waren selbständig. Kurzfristig standen wir dann ohne Dach über dem Kopf da. Und heute leben wir von der Grundsicherung im Alter. Es war grauenhaft!«, erinnern sich beide. Sie reden sich in einen Rausch der Entrüstung. Ich blicke beiden abwechselnd in die Augen. Ich spüre, dass sie möchten, dass ich ihnen glaube und dass ich ihr Schicksal nicht auch als ihre Schuld ansehe. Ihnen diese Version ihres Lebens abnehme, auf die sie sich geeinigt haben, eine Version, die sie aushalten können. An diesem Punkt meiner Reise erkenne ich, dass ich den Anspruch auf Objektivität über Bord werfen muss, wenn ich meinen Gesprächspartnern gerecht werden will. Es geht nicht um Realismus, sondern um eine erzählerische Wahrheit, die ich zu respektieren habe. Ich erkenne, dass die wesentlichen Fragen und Antworten in dieser Welt nicht an Fakten, sondern an Geschichten hängen.
Also lehne ich mich zurück und lasse die beiden weiter im Strom ihrer Erinnerungen treiben – Komplizen im Geiste. So gelangen wir schließlich an den Erinnerungsort, an dem die Tafeln ins Spiel kommen. Was gerade noch selbstsichere Entrüstung war, wird nun zerbrechliche Kleinmütigkeit. Die Stimmen werden leiser und brechen immer wieder. Tränen fließen. Beschämt geben sie zu Protokoll: »Von dem Geld, das wir bekommen, bleiben uns für Essen und Trinken und für den persönlichen Verbrauch knapp 100 Euro.«
Diese wenigen Worte reichen aus, um das Koordinatensystem eines Lebens im schlanken Sozialstaat abzustecken. Ein System, in dem immer mehr Lücken entstehen, weil die ›Grundsicherung‹ einfach nicht für ein menschenwürdiges Leben ausreicht. Und weil meist jegliches Erfahrungswissen darüber fehlt, wie mit dem Mangel umgegangen werden soll. »Die Situation war plötzlich völlig neu für uns. Wir hatten kein Geld und gar nichts mehr. Und dann hatte ich auch nichts mehr zu essen daheim. Da sagte jemand von der Caritas zu mir: Ja, wieso haben Sie denn gar nichts mehr? Gehen Sie doch zur Tafel! Und sagen Sie einen schönen Gruß von mir. Und dann bin ich dahin gegangen. Mir blieb ja nichts anderes übrig«, erinnert sich die Ehefrau. Der mitgegebene Gruß war die Eintrittskarte in die Welt der Armutsökonomie.
Diese Welt gleicht einer Geisterbahn, die von vielen nur sehr widerwillig betreten wird. »Mein Mann ist das erste Jahr gar nicht hingegangen. Ich wollte auch nicht, dass er das tut. Das war ja alles so schwer für ihn. Sein ganzes Lebenswerk ist ja den Bach runter.« An dieser Stelle offenbart sich die tiefsitzende und meist völlig unverstandene Symbolik der Tafeln. Allein beim Gedanken an eine Tafel wird ein innerer Schalter umgelegt. Das eigene Leben rattert durch die imaginäre Rechenmaschine des sozialen Vergleichs. Am Ende wird das Ergebnis, wie auf einer altmodischen Lochkarte, ausgespuckt: versagt! Die Tafeln mögen ein logistisches Erfolgsmodell sein, weil sie es schaffen, Lebensmittel von A nach B zu transportieren. Aber trotz (oder wegen?) all dieser Bemühungen wird konsequent übersehen, dass Tafeln selbst zu einem Symbol des sozialen Abstiegs geworden sind, das den gesellschaftlichen Misserfolg derjenigen schonungslos offenlegt, die euphemistisch ›Kunden‹ genannt werden. Und wie sehen es meine Gesprächspartner? »Im Alltag kann man das ganz gut verdrängen. Aber wenn man vor der
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