Schande
ungeniert, als wäre sie allein.
Er ist Frauen gewöhnt, die beim Anziehen und Ausziehen befangener sind. Aber die Frauen, die er gewöhnt ist, sind nicht so jung, haben keine so makellose Figur.
Am Nachmittag desselben Tages klopft es an die Tür seines Dienstzimmers, und ein junger Mann kommt herein, den er noch nie gesehen hat. Ohne Aufforderung setzt er sich, schaut sich im Zimmer um und nickt anerkennend bei den Bücherregalen.
Er ist groß und drahtig; er hat einen dünnen Spitzbart und einen Ohrring; er trägt eine schwarze Lederjacke und schwarze Lederhosen. Er wirkt älter als die meisten Studenten; er wirkt, als brächte er Ärger mit.
»Sie sind also der Professor«, sagt er. »Professor David.
Melanie hat mir von Ihnen erzählt.«
»Aha. Und was hat sie Ihnen erzählt?«
»Daß Sie sie ficken.«
Langes Schweigen. So, denkt er: jetzt wird abgerechnet. Ich hätte es mir denken können: ein solches Mädchen ist nicht ohne Anhang.
»Wer sind Sie?« fragt er.
Der Besucher ignoriert seine Frage. »Sie finden sich toll«, redet er weiter. »Ein richtiger Aufreißer. Glauben Sie, daß Sie noch so toll aussehen werden, wenn Ihre Frau erfährt, was Sie so treiben?«
»Das geht zu weit. Was wollen Sie?«
»Erzählen Sie mir nicht, was zu weit geht.« Die Worte kommen jetzt schneller, schnell und drohend. »Und bilden Sie sich ja nicht ein, Sie könnten einfach in das Leben von Menschen hineinspazieren und wieder heraus, wenn es Ihnen paßt.« In seinen schwarzen Augen tanzen Lichtpünktchen. Er beugt sich vor, fegt mit den Händen nach rechts und nach links. Die Papiere auf seinem Schreibtisch fliegen durch die Luft.
Er erhebt sich. »Das geht zu weit! Machen Sie, daß Sie fortkommen!«
»Machen Sie, daß Sie fortkommen!« äfft ihn der junge Mann nach. »Okay.« Er steht auf und geht langsam zur Tür. »Auf Wiedersehen, Prof! Aber machen Sie sich auf was gefaßt!« Dann ist er fort.
Ein Ganove, denkt er. Sie hat sich mit einem Ganoven eingelassen, und jetzt muß auch ich mich mit ihrem Ganoven einlassen! Er hat Magenschmerzen.
Obwohl er bis spät nachts aufbleibt und auf Melanie wartet, kommt sie nicht. Statt dessen wird sein auf der Straße geparktes Auto mutwillig beschädigt. Die Reifen sind platt, man hat Leim in die Türschlösser geschmiert und Zeitungen auf die Windschutzscheibe geklebt, der Lack ist zerkratzt. Die Schlösser müssen ausgewechselt werden; die Rechnung beläuft sich auf sechshundert Rand.
»Haben Sie eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?« fragt der Schlosser.
»Keine blasse Ahnung«, antwortet er kurz angebunden.
Nach diesem Coup hält sich Melanie von ihm fern. Es überrascht ihn nicht: wenn er gedemütigt wurde, dann ist auch sie gedemütigt. Aber am Montag taucht sie wieder im Seminar auf; und neben ihr, zurückgelehnt auf seinem Stuhl, Hände in den Taschen, sitzt mit anmaßender Selbstverständlichkeit der junge Mann in Schwarz, der Freund.
Für gewöhnlich summt die Luft von den Gesprächen der Studenten. Heute herrscht erwartungsvolles Schweigen. Obwohl er nicht glauben kann, daß sie wissen, was im Gange ist, warten sie sichtbar gespannt darauf, wie er sich zu dem Eindringling verhalten wird.
Wie wird er sich denn verhalten? Was mit seinem Auto passiert ist, hat offenbar noch nicht gereicht. Offenbar soll noch einiges folgen. Was kann er machen? Er muß die Zähne zusammenbeißen und zahlen, was sonst?
»Wir fahren mit Byron fort«, sagt er und taucht in seine Notizen. »Wie wir letzte Woche gesehen haben, beeinflußten Byrons traurige Berühmtheit und seine Skandalgeschichten nicht nur sein Leben, sondern auch die Rezeption seiner Gedichte durch die Öffentlichkeit.
Byron stellte fest, daß man ihn mit seinen poetischen Geschöpfen verschmolz – mit Harold, Manfred, sogar mit Don Juan.«
Skandalgeschichten. Wie ärgerlich, daß das sein Thema sein muß, aber er ist nicht in der Lage zu improvisieren.
Verstohlen blickt er Melanie an. Sie schreibt sonst eifrig mit. Heute sieht sie dünn und erschöpft aus und sitzt zusammengekrümmt vor ihrem Buch. Trotz allem rührt sie sein Herz. Armes Vögelchen, denkt er, das ich an meiner Brust geborgen habe!
Er hat ihnen aufgetragen, »Lara« zu lesen. Seine Notizen beziehen sich auf »Lara«. Es gibt keine Möglichkeit, das Gedicht nicht zu behandeln. Er liest laut vor:
» Er war ein Fremdling in der
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