Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schande

Schande

Titel: Schande Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. M. Coetzee
Vom Netzwerk:
Wie ich schon gesagt habe, Melanie hat großen Respekt vor Ihnen.«
      Respekt? Sie sind nicht auf dem laufenden, Mr. Isaacs. Ihre Tochter hat schon vor Wochen Ihren Respekt vor mir verloren, und zwar aus gutem Grund. Das sollte er sagen. »Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagt er statt dessen.
      Du kommst nicht ungestraft davon, sagt er sich danach.
      Und auch Vater Isaacs im fernen George wird dieses Gespräch mit seinen Lügen und Ausflüchten ebenfalls nicht vergessen. Ich werde sehen, was ich tun kann. Warum nicht alles gestehen? Ich bin der Wurm im Apfel, hätte er sagen sollen. Wie kann ich Ihnen helfen, wenn ich die Quelle des Übels bin?
      Er ruft in der Wohnung an und hat Cousine Pauline am Apparat. Melanie ist nicht zu sprechen, sagt Pauline ziemlich kühl. »Was soll das heißen, sie ist nicht zu sprechen?« »Das heißt, sie möchte nicht mit Ihnen sprechen.«
      »Richten Sie ihr aus«, sagt er, »es geht um ihren Entschluß, das Studium aufzugeben. Richten Sie ihr aus, sie handele sehr unüberlegt.«
       
     
      Das Seminar am Mittwoch läuft schlecht, am Freitag noch schlechter. Die Teilnahme ist gering; es kommen nur die zahmen Studenten, die passiven, braven. Dafür gibt es nur eine Erklärung. Die Sache muß bekanntgeworden sein.
      Er ist im Sekretariat des Fachbereichs, als er eine Stimme hinter sich hört: »Wo finde ich Professor Lurie?«
      »Hier bin ich«, sagt er, ohne nachzudenken.
      Der Mann, der gesprochen hat, ist klein, dünn, hat krumme Schultern. Er trägt einen blauen Anzug, der zu groß für ihn ist, er riecht nach Zigarettenrauch.
      »Professor Lurie? Wir haben miteinander telefoniert. Isaacs.«
      »Ja. Guten Tag. Wollen wir in mein Zimmer gehen?«
      »Das wird nicht nötig sein.« Der Mann wartet, sammelt sich, holt tief Luft. »Herr Professor«, fängt er an und sagt das mit großem Nachdruck, »Sie mögen ja sehr gebildet sein und so weiter, aber was Sie getan haben, ist nicht recht.« Er macht eine Pause, schüttelt den Kopf. »Es ist nicht recht.«
      Die beiden Sekretärinnen geben sich keine Mühe, ihre Neugier zu verbergen. Es sind auch Studenten im Sekretariat; als der Fremde lauter wird, verstummen sie.
      »Wir geben unsere Kinder in eure Obhut, weil wir glauben, daß wir euch vertrauen können. Wenn wir der Universität nicht trauen können, wem können wir dann trauen? Wir hätten uns nicht träumen lassen, daß wir unsere Tochter in ein Schlangennest geschickt haben.
      Nein, Professor Lurie, Sie mögen eine hohe Position und alle möglichen akademischen Grade haben, aber an Ihrer Stelle würde ich mich schämen, so wahr mir Gott helfe.
      Wenn ich etwas in die falsche Kehle bekommen habe, dann haben Sie jetzt die Gelegenheit, mir zu widersprechen, aber ich glaube es nicht, ich sehe es Ihnen an.«
      Das ist wirklich seine Gelegenheit: laß den sprechen, der unbedingt sprechen möchte. Aber er steht da und bringt keinen Ton heraus, und das Blut rauscht ihm in den Ohren. Eine Schlange: wie kann er das leugnen?
      »Entschuldigen Sie«, sagt er leise, »ich habe zu tun.«
      Wie eine Marionette dreht er sich um und geht.
      Isaacs folgt ihm in den belebten Korridor hinaus. »Herr Professor! Professor Lurie!« ruft er. »Sie können nicht einfach fortlaufen! Sie werden noch von mir hören, das verspreche ich Ihnen!«
       
     
      So fängt es an. Am nächsten Vormittag kommt mit erstaunlicher Promptheit eine offizielle Mitteilung aus dem Sekretariat des Prorektors (für Studienangelegenheiten), daß gegen ihn eine Anzeige nach Paragraph 3.1 des Ehrenkodex der Universität erstattet wurde. Er wird aufgefordert, sich umgehend mit dem Sekretariat des Prorektors in Verbindung zu setzen.
      Der Mitteilung – die in einem mit Vertraulich gekennzeichneten Umschlag steckt – liegt ein Exemplar des Ehrenkodex bei. Paragraph 3 behandelt Verfolgung oder Bedrohung auf Grund der Rasse oder ethnischen Zugehörigkeit, auf Grund von Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung oder Körperbehinderung. Paragraph 3.1 spricht von der Verfolgung oder Bedrohung von Studenten durch Mitglieder des Lehrkörpers.
      Ein zweites Dokument beschreibt die Zusammensetzung und die Kompetenzen von Untersuchungsausschüssen. Er liest es, und sein Herz hämmert unangenehm.
      Mittendrin kann er sich nicht mehr konzentrieren. Er steht auf, schließt die Tür seines Zimmers ab und sitzt dann mit dem Papier in der Hand und versucht sich vorzustellen, was passiert

Weitere Kostenlose Bücher